crime scene : In der Schwebe
Jetzt wissen wir es. Elfriede Jelinek würde am liebsten Krimis schreiben. „So wie Chandler oder Hammett oder Ruth Rendell und P. D. James“, erklärte die Nobelpreisträgerin in einem Interview mit der FAZ, „aber das versuche ich gar nicht.“ Allerhöchstens ihr Roman „Gier“, meint sie, sei „ein bisschen ein Krimi, wenn auch ohne Suspense“. Tatsächlich begeht der österreichische Gendarm Kurt Janisch in „Gier“ einen Mord im Sinne des Strafgesetzbuchs, indem er aus „niederen Beweggründen“ tötet, aber näher kommt Elfriede Jelinek dem Genre dann nicht. Ein Krimi ohne Suspense, das gibt es nicht.
Aber es gibt Bücher, die keine Krimis sind und trotzdem eine Menge davon haben. Interessanter sind für diese Kolumne zum Beispiel die Romane zweier Autoren, die zwar auch nicht zu den crime writers gehören, die aber im Gegensatz zu Elfriede Jelinek äußerst spannend schreiben. Da ist zum einen der Brite Gilbert Adair, der in diesen Tagen 60 wird. Aus diesem Anlass erscheinen unter dem Titel „Suspense“ noch einmal drei seiner Werke in einer Kassette. „Der Schlüssel zum Turm“ erzählt von einer Kunstfälschung, „Tod des Autors“ macht aus der Affäre um Paul de Man und seine faschistische Vergangenheit einen unterhaltsamen Campus-Roman – und „Blindband“ demonstriert vielleicht am besten, wie geschickt Adair mit seinen Lesern zu spielen versteht.
Es beginnt nett. Ein junger Londoner Börsenmakler gibt seinen Beruf auf, um als Sekretär für einen erblindeten Schriftsteller zu arbeiten. Schon bald entspinnt sich zwischen den beiden Männern eine Art Zweikampf, der zuerst amüsant wirkt, dann aber immer verbissenere Züge bekommt. „Blindband“ besteht dabei fast nur aus Dialogen, man erfährt also nie mehr als das, was ausdrücklich gesagt wird. So verfängt man sich genau wie der verbitterte Schriftsteller schnell in dem Netz der Lügen und Halbwahrheiten, das der Sekretär aufgespannt hat. Gilbert Adair ist wohl einer der geschicktesten Feinmechaniker der spannenden Unterhaltung: Worum es bei dieser zuletzt tödlichen Auseinandersetzung eigentlich geht, erschließt sich erst ganz am Ende dieses perfekt durchkalkulierten, aber an keiner Stelle berechenbaren Dramas. Und es ist eine böse Überraschung.
Das englische Wort suspense meint nicht nur „Spannung“, sondern es bedeutet auch, etwas „in der Schwebe“ zu halten. Der französische Autor Philippe Claudel hat es gerade meisterhaft vorgemacht. Sein Roman „Die grauen Seelen“ beginnt an einem kalten Dezembermorgen mitten im Ersten Weltkrieg. Am Rand einer Kleinstadt in Lothringen wird ein Mädchen ermordet. Kurze Zeit später werden zwei Deserteure verhaftet, doch sie sind nur Sündenböcke. Der wahre Mörder wird nie gefasst.
Als einer der Polizisten 20 Jahre später den Fall zu rekonstruieren versucht, begibt er sich in einen dichten Sumpf aus kleinstädtischen Intrigen, schlechtem Gewissen und quälenden Erinnerungen. Sieht es zunächst noch so aus, als ob im Mittelpunkt der Tragödie der Staatsanwalt Destinat steht, ein unerbittlicher Jurist, gehen diese und andere Gewissheiten nach und nach verloren. Zuletzt befindet sich alles, selbst das Leben des Erzählers „in der Schwebe“, und er kapituliert vor der „Undurchsichtigkeit des Verbrechens“, an der „womöglich allein die Undurchsichtigkeit unseres Lebens schuld ist“. Es gibt keinen Täter, aber viele Schuldige.
Das ist Suspense: die Kunst, den Leser bis zur letzten Seite und möglicherweise sogar darüber hinaus im Ungewissen über den eigentlichen Ausgang der Erzählung zu lassen. Elfriede Jelinek ist zu Recht neidisch darauf. KOLJA MENSING
Elfriede Jelinek: „Gier“. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2002, 461 S., 9,90 Euro Gilbert Adair: „Suspense“. 3 Bände. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Edition Epoca, Zürich 2004. 551 S., 27 Euro.Philippe Claudel: „Die grauen Seelen“. Aus dem Französischen von Christiane Seiler. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004, 238 S., 19,90 Euro