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Archiv-Artikel

cannes cannes Krieg den Gemeinplätzen

„Alexandra“ löst mit seiner entschiedenen Nichthaltung zum Krieg in Tschetschenien die erste Kontroverse von Cannes aus

Alexander Sokurov kommt nicht nach Cannes. Der russische Regisseur sei krank, heißt es in einer Pressemitteilung, die Pressekonferenz zu seinem Wettbewerbsbeitrag „Alexandra“ fällt aus. Das ist schade, denn „Alexandra“ ist ein Film, zu dem man gerne etwas aus dem Mund des Filmemachers gehört hätte, ein Film von einer zwar matten, aber umso größeren Schönheit. Bei der Pressevorführung gestern in der Früh hat er Buhrufe und gegen die Buhrufe anbrandenden Applaus provoziert.

„Alexandra“ spielt in Tschetschenien und dort meistens auf dem Gelände eines russischen Militärstützpunktes. Die titelgebende Heldin (Galina Vishnevskaya) besucht ihren Enkelsohn, den Offizier Denis (Vasily Shevtsov). Der Film beginnt, als sie aus einem Bus aus- und in einen Zug umsteigt, in einem Panzer geht es schließlich weiter bis zur Ankunft in dem Lager, und schon in diesen ersten Sequenzen ist bemerkenswert, wie Sokurov die alte Frau und die jungen Männer ins Bild setzt, wie er die Erotik des Männerbunds unentwegt evoziert und sie zugleich mit dem Körper und dem Gesicht dieser würdigen Alten konfrontiert. Ein paar Tage verbringt Alexandra zwischen Soldaten, Panzern, Zelten und müffelnden Waschräumen, bevor sie abreisen wird. Die Hitze ist groß, schon am frühen Morgen herrschen über 30 Grad, die Sonne scheint grell. Einmal besucht Alexandra ohne Erlaubnis den Markt des nächstgelegenen Ortes; sie freundet sich mit einer der Marktfrauen an, Malika (Raisa Gichaeva); es vergeht eine Weile, bis eine Totale zum ersten Mal einen Blick auf die Umgebung gestattet. Erst jetzt sieht man die zerbombten Häuser und den Trümmerschutt am Straßenrand.

Jenseits davon bleibt der Krieg in „Alexandra“ ein Phantom. Er materialisiert sich zwar in Uniformen, Panzern und Waffen, aber zugleich ist er ungreifbar in seinen Schrecken und in seinem Machtgefälle. Malika berichtet, dass sie Schwestern und Brüder verloren hat, aber das treibt sie nicht zu Groll gegen Alexandra. „Sie sind so gut“, sagt die Russin, als sie auf der Couch Malikas ruhen darf, der schmerzenden Beine wegen. Malika antwortet: „Was hilft es schon, schlecht zu sein?“ Der junge Tschetschene, der Alexandra zurück zum Stützpunkt begleitet, ist nicht minder sanftmütig. „Ich weiß, Sie tragen keine Verantwortung, aber geben Sie uns Freiheit“, sagt er. Die Kamera ruht mit großer Zärtlichkeit auf seinen Gesichtszügen; in mein Notizheft schreibe ich „Affektbild“, in Großbuchstaben.

So gleitet „Alexandra“ in farbentsättigten Bildern dahin, schläfrig, traumwandlerisch. Das Fehlen der Farben schuldet sich dem Licht der heiß brennenden Sonne, der leichte Braunstich – von sepiafarbenem Kunstgewerbe weit entfernt – einer ästhetischen Vorliebe des Regisseurs. Sokurov dreht seinen im Kriegsgebiet angesiedelten Film, ohne in irgendeiner Form Position zu beziehen. Die Gewalt ist unsichtbar, stattdessen gehen Menschen mit Zärtlichkeit und Güte aufeinander zu. „Alexandra“ kostet die Wirkung aus, die Hitze, Schweiß und eine staubige Umgebung auf die Sinne haben, und er kostet den Kontrast aus zwischen der alten Frau und den jungen, uniformierten Männern. Wer ideologiekritisch geschult ist, weiß natürlich, dass keine Position zu beziehen durchaus eine Position darstellt. Das mag die Buhrufe nach der Pressevorführung erklären. Aber das Tolle an „Alexandra“ ist ja gerade, dass der Film die Ideologiekritik zunächst herausfordert, um sie dann bei ihrer Hilflosigkeit zu packen – weil sie einfach kein Vokabular für die Schönheit und die Stringenz dieses Filmes besitzt. Und das Tolle an Cannes ist, dass die Filme quer durch die Sektionen immer wieder solche kniffligen Fragen aufwerfen, anstatt uns mit Gewissheiten und Gemeinplätzen zu versorgen. CRISTINA NORD