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Archiv-Artikel

bücher für randgruppen Dokument postmoderner Beliebigkeit: das Buch „Ach Maria“ von dem Basler Historiker Daniel Hagmann

Der Papst kommt leibhaftig nach Deutschland. Im August konnte man noch sehen, wie er im öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehen von fünf freundlich grienenden Männern umgeben war, die auf im Halbkreis platzierten Stühlen mit überlangen Rückenlehnen artig Fragen stellten, die an Harmlosigkeit kaum zu überbieten waren. Schmunzelnd verwies der lokale Vertreter Gottes auf die Frage, ob Frauen in seinem Männerverein irgendwie auch mal etwas zu sagen hätten, auf ihre große Bedeutung. Die bedeutendste Frau dort wird also wohl nach wie vor Maria bleiben, die Jungfrau mit dem Jesuskind.

Diese Maria und ihre mannigfachen Erscheinungsformen in der alltäglichen Gegenwart hat Daniel Hagmann zum Objekt seiner Untersuchungen gemacht. Eigentlich untersucht der Basler Historiker nichts. Wie zu lesen ist, möchte das Werk nämlich weder argumentieren noch analysieren. Es verfährt nach dem Motto: Ich bin klein, mein Herz ist rein. Ob es aber dem Autor gelingt, sich mit diesem Gestus in den seligen Zustand der Unschuld hineinzubewegen?

Über einen Zeitraum von zwei Jahren – so ist zu erfahren – habe der Historiker vierzig Gespräche mit Männern und Frauen „verschiedener kultureller Herkunft“ zum Thema geführt. Die Endfassung dieser Gespräche mit „zufällig“ Ausgewählten, die „möglicherweise etwas zu sagen hatten“, hat er allerdings selbst formuliert. Soll heißen, der Leser hat zu entscheiden, ob er die anonymen Texte entweder dem Autor oder doch mehr den Befragten zuordnet. Wer diese schließlich sind, kann dem Dankeschön der letzten Seite entnommen werden: Die Liste reicht von „Andrea“ über „Lokführer“ bis hin zu „Rollstuhlfahrerin“.

Schon die große Lockerheit, die „Zufälligkeit“, mit der hier eine anzunehmend gehfähige „Andrea“ mit einer namenlosen „Rollstuhlfahrerin“ zusammentrifft, beweist, welchem kollektivem Mythos der Autor anheimgefallen ist: dem Irrglauben der grenzenlosen Offenheit einer demokratischen Gesellschaft, deren Mitglieder sich für höchst individuell und extrem aufgeklärt halten. Keine Bordsteinkante scheint zu hoch, kein Ort zu klein, um allen die frohe Botschaft zu überbringen, sie teilhaben zu lassen an der großen Party. Auf dieser Grundlage reproduziert das Buch ungehemmt alle möglichen Klischees und wird gleichzeitig zu einem Dokument postmoderner Beliebigkeit. Es steigert die Verwirrung, die der neokonservative Backlash benötigt, um sein ideologisches Fundament errichten zu können. Durch die Seiten des mit attraktiven Fotografien von Sabine Rufener bebilderten Coffeetable-Buchs strömt ein fast religiöser Glaube an den freien Menschen, an den Individualisten, der vor grenzenloser Offenheit nichts mehr spürt – besonders, wenn er weiß, männlich und heterosexuell ist.

So kommt es, dass sich hier „die Jungfrau mit den levantinischen Gesichtszügen“ über Jahrhunderte zum Porträt einer „italienischen Ragazza“ wandelt. Salopp wird ein Stereotyp nach dem anderen reproduziert wie das der „schwarzen Madonna“. Sie wird dem Leser als „eine Mischung aus einer Roma und einer polnischen Bäuerin“ hingeworfen. Was aber heißt das? Wie sieht eine Roma aus? Etwa wie Marianne Rosenberg, die dritte Tochter von Otto Rosenberg, Auschwitz-Überlebender und langjähriger Vorsitzender des Roma-und-Sinti-Verbandes Berlin?

Um Himmels willen! Diese Maria könnte doch sicher problemloser in der Abteilung Pop verortet werden. Dort würde sie dann nämlich auf die Sängerin Madonna treffen, die hier – plötzlich Ende der großen Zurückhaltung – als „stimmlich mäßig begabt“ geoutet wird. Im Herzen Marias, so lesen wir, liegt potenzielle Sprengkraft – und das Angebot der Versöhnung. Wir hissen gehorsam die weiße Fahne und sortieren die Gehirnzellen, soweit die sich nicht längst assoziativ in alle Winde zerstreut haben.   WOLFGANG MÜLLER

Daniel Hagmann: „Ach Maria“. Christian Merian Verlag, Basel 2006. 304 Seiten, 30 vierfarbige Abbildungen, 26 Euro