briefe an den präsidenten (8) : Eindeutig zu wenig Woodstock
Am 2.11. ist Präsidentschaftswahl in den USA. Bush oder Kerry? Für viele US-amerikanische Künstler ist diese Frage zur Schicksalsfrage geworden. Das Junge Theater wird vom 27.10. bis zum 3.11. unter dem Titel „mad(e) in Amerika“ in der Schwankhalle amerikanische und deutsche Künstler präsentieren, die sich mit Politik und Kultur in den USA beschäftigen. Vorab haben das Junge Theater und die taz Menschen aus Kultur und Wirtschaft gebeten, an den amtierenden, zukünftigen oder idealen US-Präsidenten einen Brief zu schreiben. Heute: Andreas Hoetzel, Moderator von „buten un binnen“.
Dear Mr. President,
es wird dem erstmaligen Eintrag in die Verbrecherkartei ähneln. Darauf hat mich mein Reiseleiter heute vorbereitet. Digitaler Abdruck beider Zeigefinger und ein Foto: Das wird mich erwarten, wenn wir am 28. Oktober in New York landen. Eine Informationsreise anlässlich der Präsidentenwahl. Der Titel: Understanding America. Ich habe das nötig. Dringend nötig. Ich habe Amerika schon mal besser verstanden. Als ich klein war, kam alles, was ich herrlich fand, aus den USA. Woodstock, Jimi Hendrix, Marihuana, Blue Jeans und Parker. Nur die Frauen fand ich schon damals seltsam steril. Aber der Rest war stilbildend für mich. Keine Frage, Amerika war gelobtes Land. Land der unbegrenzten Freiheiten. Heimat meiner Ikonen. Ein paar merkwürdige Freiheiten waren schon damals darunter. Aber es war nicht schwierig, generös darüber hinwegzusehen.
Anything goes: Das war das Leitmotiv jener Jahre, in denen wir dem utopischen Optimismus huldigten. Und auch wenn wir mal mit diesem oder jenem politischen Experiment in diesem oder jenem eher entfernten Winkel der Erde liebäugelten, die eigentliche kulturelle Heimstatt blieb Amerika. Dass ich dabei das Land auf seine schmale Ost- und Westküste reduziert hatte, fiel bei mir nicht weiter ins Gewicht. Dem Niemandsland dazwischen ordnete ich die Verantwortung für Vietnam, die Schweinebucht und alle folgenden außenpolitischen Gemeinheiten zu. Amerika war ich kulturell zugewandt und außenpolitisch habe ich es missbilligt. Dieser Widerspruch, der friedlich in mir koexistierte, spiegelt sich nirgends besser als in Jimi Hendrix‘ „Star spangled banner“, als er die amerikanische Nationalhymne auf seiner jaulenden Gitarre zerfetzt. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ließ eben auch das zu. Mehr noch: Es war gelebte Verfassung. Der erste Zusatz garantiert das Recht auf freie Rede. Und allein deswegen verdiente Amerika schon meinen Respekt.
Der ist mir in den letzten vier Jahren unter Mr. Bush abhanden gekommen. Weil der sich hemmungslos auf die Seite des Niemandslandes geschlagen hat. Weil der mein Amerika zu seinem Feindbild erkoren hat. Weil ihm der zweite Verfassungszusatz wichtiger war. Der sichert jedem freien Bürger das Tragen einer Feuerwaffe zu.
Das alles hatte schlimme Folgen auch für uns: Seine Kreuzzugsrhetorik, seine herablassende Haltung gegenüber andersdenkenden Verbündeten, seine Art des Krieges im Irak haben es uns zu leicht gemacht. Kaum war Bush Mr. President, hatten wir alle anti-amerikanischen Reflexe aus der Tasche geholt. Die Bundesregierung brauchte keine eigene Meinung, was sie im Irak will – Hauptsache, nicht so wie Amerika. Wenn in Deutschland über die richtige Strategie gegen den Terrorismus nachgedacht wird, ist nur eines klar: auf keinen Fall so wie die Amerikaner.
Amerika ist mir fremd geworden in den letzten vier Jahren. Zu viel Erweckungsgedanke, zu viele Verbote. Zu viel Lüge, zu viel Prüderie. Eindeutig zu wenig Woodstock. Und deshalb brauche ich diese Reise: Understanding America. Mal nachsehen, ob in dem Land der begrenzten Freiheiten noch immer unbegrenzte Möglichkeiten stecken.
Ihr Andreas Hoetzel