brief des tages:
Auf dem rechten Auge relativ blind
„Was vom Tag X übrig bleibt“, taz vom 4. 6. 23
Seit rund 100 Jahren ist die deutsche Justiz auf dem rechten Auge relativ blind. Bereits in der Weimarer Republik galten gewalttätige Rechtsradikale als Hüter des Vaterlandes und wurden recht milde bestraft, Linksradikale hingegen erhielten vergleichsweise drakonische Haftstrafen. Alles gut nachzulesen in den Gerichtsreportagen aus den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts der Journalistin und Schriftstellerin Gabriele Tergit, die NS-Propagandist Joseph Goebbels als „miese Jüdin“ beschimpfte. Diese unselige Tradition der „Rechtspflege“ wird auch heute teilweise fortgesetzt: Während die AfD in Umfragen den Höhenflug antritt, dürfen „besorgte Bürger“ trotz Versammlungsverboten „spazieren gehen“, im Internet hetzen, Gewalttaten gegen Journalisten und Andersdenkende ausüben. Meist unbestraft, während „Linke“ eingekesselt, präventiv verhaftet und vor Gericht gezerrt werden. Kurt Tucholsky beschrieb diese Zustände ebenfalls vor rund 100 Jahren sinngemäß so: Wer den braunen Dreck unter dem Teppich hervorkehrt, wird beschimpft. Nicht aber jene, die den Dreck machen. Andreas Smidderk, Düsseldorf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen