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Archiv-Artikel

bernhard pötter über Kinder Schluckspecht und Angsthase

Kinder sollten die Welt mit ihren Hände begreifen. Und nicht stückchenweise verschlucken

Hat Ihnen schon mal jemand das Leben gerettet? Nicht so halbe Sachen, dass Ihr Nachbar in der U-Bahn Sie bei der Schwarzfahrerkontrolle auf sein Ticket nimmt oder ein Kollege Ihnen seine trockenen Socken leiht, wenn Sie mit nassen Füßen ins Büro kommen. Nein, ich meine diese Situation: Ein geheimnisvoller Fremder reißt Sie im letzten Moment vor dem herandonnernden Schnellzug von den Gleisen. Ist Ihnen das schon mal passiert?

Mir schon. Ich war drei oder vier und spielte vor unserer Tür. Petra, die nette Nachbarstochter, sah aus dem Fenster und wollte mir etwas Gutes tun. Sie warf mir einen Lutschbonbon runter, den ich ich gierig verschlang und prompt in die falsche Kehle bekam. „Hrchchchngngng“ wären meine letzten Worte gewesen, wäre nicht gerade mein Schutzengel in Gestalt von Frau Förster vorbeigekommen. Frau Förster wohnte zwei Häuser weiter und war hochschwanger. Trotzdem packte sie mich an den Füßen, stellte mich auf den Kopf und schlug mir so lange auf den Rücken, bis der Bonbon wieder aus meinem keuchenden Mund fiel. Meine ganze Kindheit habe ich Frau Förster dafür geliebt.

Und mein ganzes Leben habe ich an diesem Bonbon zu schlucken gehabt. Gab es für eine Krankheit die Medizin nur als Tablette und nicht als Saft, musste ich eben ohne Medikament gesund werden. Schwertschlucker und Agenten, die Geheimbotschaften schluckten, riefen bei mir ebenso Grauen hervor wie später die Geschichten von Drogenkurieren, die tonnenweise Heroinsäckchen im Magen transportieren. Malariavorsorge? Selbstmord mit Schlaftabletten? Die Pille für den Mann? Undenkbar.

Okay, ich habe eine Macke. Um das zu verbergen, nannte ich sie „anginatracheales Syndrom“ (ATS). Und ich argumentierte nach dem Muster „Krankheit als Weg“ psychosomatisch: Schließlich darf man nicht alles schlucken, was einem vorgesetzt wird. Ich hatte meine Phobie im Griff.

Dann kam Tina. Meine Tochter ist noch keine 18 Monate, aber sie kennt mein ATS sehr genau. Und sie weiß, dass mir auch dann die Luft wegbleibt, wenn andere würgen. Also entwickelt sie sich zum Schluckspecht. Ritterhelme von Playmobil, Korken, Schießgummis, Legosteine, Pingpongbälle, 2-Euro-Münzen, Radiergummis, Kugeln aus Stanniolpapier, Batterien und Muscheln habe ich ihr schon aus dem Rachen gezogen. Mit zitternden Händen und dem Körper voll Adrenalin sah ich mich jedes Mal schon wegen fahrlässiger Tötung meines Kindes und unterlassener Hilfeleistung vor Gericht stehen. „Erziehungsurlauber lässt Tochter (1) qualvoll ersticken – er las seelenruhig im Nebenzimmer die Zeitung“, würden meine Kollegen dann titeln.

Meine Tochter (1) geht indes perfide vor. Nicht nur versucht sie, das Begreifen der Welt in ein Verschlucken umzuwandeln. Nein, jedes Mal, wenn sie sich wieder etwas zwischen die Kiemen steckt, schielt sie zu mir. Damit ich auch wirklich sehe, dass sie drauf und dran ist, die beiden Ohrstöpsel von Tante Undine unzerkaut herunterzuschlucken. Und damit ich, in kalten Schweiß gebadet, zu ihr hinspringe und in ihrem Mund herumstochere.

„Hab dich doch nicht so“, sagt meine zart fühlende Frau Anna. „Du machst durch deine Aufregung alles nur viel schlimmer.“ Tina sieht das als Spiel, bei dem man Papa springen lassen kann, meint sie. Und wenn ich mich aufrege, schluckt sie am Ende vor Freude oder Aufregung noch wirklich was runter. „Du überträgst deine eigenen Ängste auf das Kind.“

Na und? Schließlich habe ich sonst nichts zu vererben. Andere Leute geben ihren Kindern ihren Putzfimmel weiter, ihren Job als Präsident der USA oder ihre Angst vor Fremden, vor Hundekacke oder vor der Angst. Warum darf ich meinen Kindern nicht mein anginatracheales Syndrom vererben? Hat es mir denn geschadet?

„Du musst loslassen lernen“, sagt Anna. „Man kann Kinder nicht dauernd kontrollieren. Und sie sind auf sich allein gestellt viel vernünftiger, als wir denken.“ Wahrscheinlich hat sie Recht. Vorsichtig lehne ich mich auf dem Sofa zurück. Mein Atem pfeift nicht mehr. Mein Puls beruhigt sich. Der Schweiß auf der Stirn beginnt zu trocknen. Tiefer innerer Frieden breitet sich in mir aus.

Ein keuchendes Würgen aus dem Kinderzimmer macht mich dann aber doch stutzig. Tina steht mitten im Raum und ringt nach Luft. Mit fahrigen Fingern hole ich ihr das Abdeckplättchen einer Trinkflasche aus dem oberen Drittel der Luftröhre. Der leicht panische Blick meiner Tochter verrät dem Quacksalber in mir: ATS im Anfangsstadium. Sie tritt ein schweres Erbe an.

Fragen zu Kindern? kolumne@taz.de