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bernhard pötter über KinderDas Ende eines Säugetiers

Jahresrückblick: Wir haben unseren Sohn von der Nuckelsucht geheilt, das war der größte Erfolg in 2001

Was haben wir alles gemeinsam durchgemacht: die größte Freude und den tiefsten Schmerz. Wir haben dich geliebt, du hast uns getröstet und uns Dinge ermöglicht, die unerreichbar schienen. Du hast unsere Träume begleitet und unsere Abgründe gesehen. Wir haben dich gewaschen und gekocht, versteckt, verloren, wieder gefunden, ans Herz gedrückt. Wir haben deinen Erfinder gepriesen und konnten nie genug von dir bekommen. All das ist nun vorbei.

Nein, die Rede ist mal nicht von der D-Mark. Sondern von einem Gefährten, der uns drei Jahre treu gedient hat und nun doch entsorgt wurde: unser Nuckel. Oder besser: Jonas’ Nuckel. Oder noch besser: doch unser Nuckel. Schließlich haben wir drei Jahre mit ihm gelebt. Und ganz am Ende dieses Jahres doch noch einen Sieg gefeiert: die Abschaffung des Nuckels. Das Ende des Säugetiers Jonas.

„Nuckel!“, schallte es jahrelang im Kasernenhofton aus dem Kinderzimmer. Der „Beruhigungssauger Latex Marke Mond und Sterne“ gehörte zum festen abendlichen Ritual wie Jonas’ Gute-Nacht-Geschichte, sein Lied, seine Flasche Wasser, seine Stofftiere und unsere zähneknirschende Verzweiflung. Tagsüber bremste der Schnuller den Schmerz nach dem Absturz von der Küchenbank. Verlässlich versiegelte der Stöpsel die Mischung aus Tränen, Rotz und Speichel, die unseren Alltag begleitete.

„Das Ding muss weg“, sagte Anna. „Jonas hat schon ganz schiefe Zähne davon.“ Mich störte vor allem, dass mein Sohn mit demselben gierigen Gesichtsausdruck an seinem Seelentröster sog wie meine qualmenden Kollegen an ihren Zigaretten. Und Jonas selbst wunderte sich immer wieder, warum die Nuckel, die er hinters Bett warf, erst Wochen später unter einer dicken Decke von Fusseln auftauchten: „Die schmecken so komisch.“

Also weg mit dem Ding. Aber wie? Ich versuchte es mit Miesmachen: „Jonas, das Ding ist ja furchtbar. Und du siehst aus wie ein Baby damit.“ Effekt gleich null. Oder eher kontraproduktiv: Jonas sah mich groß an und steckte sich den Schnuller in den Mund. Damit bestätigt er die Ansicht, dass Miesmachen nichts hilft, sondern nur dazu führt, dass die Kinder sich unsicher fühlen und ihre Nuckel noch dringender brauchen. Die Experten in der WDR-Sendung „ServiceZeit Familie“ raten zu brachialen Methoden: Mit einer Nadel den Nuckel zerstechen und damit die Luft rauslassen; den Nuckel jeden Tag ein Stück kürzer schneiden; irgendwas auftragen, was eklig schmeckt.

Das klang nach hartem Entzug. Die „Praxis für Suchttherapie im Internet“ empfiehlt: „Verzichten Sie auf Ihr Suchtmittel. Wenn Sie es nicht einmal einen Tag schaffen, haben Sie mit großer Wahrscheinlichkeit ein Suchtproblem.“ Wir haben es versucht. Resultat: Wir haben ein Suchtproblem.

„Nuckeln ist auch nur eine Sucht wie andere“, sagte Anna. In der Tat lebt Jonas in einem Haushalt von Süchtigen: Wenn seine Mutter morgens ihren Tee mit Milch nicht bekommt, kommt sie nicht in die Gänge, wenn es im Advent keinen Spekulatius zum Kaffee gibt, sinkt ihre Laune auf den Gefrierpunkt. Wenn sein Vater dagegen abends nicht die „Tagesthemen“ sehen kann, beginnen seine Hände fahrig zu zittern. Wenn er drei Tage nicht joggen war, bekommt er Wadenkrämpfe, hat er auf dem Klo nicht seine Ruhe, wird er missmutig. Wir sind, kurz gesagt, Sklaven unserer Begierden. Wie wollen ausgerechnet wir unserem Sohn das tröstende Nuckeln abgewöhnen?

„Wir kaufen ihn“, sprach meine Frau mit dem Sinn fürs Praktische. Bei anderen Kindern kommt die Nuckelfee, die für ein kleines Gegengeschenk den Sauger mitnimmt. Jonas hatte diesen Punkt schon lange überschritten, wo er sich mit symbolischen Geschenken zufrieden gab. Wir mussten massiv vorgehen: Für viel Geld besorgten wir ein massives Hochbett mit Leiter (!), Höhle (!!) und Rutsche (!!!). Der Deal war: Du schenkst dem Weihnachtsmann deine Nuckel. Der Weihnachtmann schenkt dir ein Hochbett.

Es funktionierte. Die Schnuller gingen, das Hochbett kam. Über Nacht sind wir geheilt. Geheult wird jetzt ohne Stöpsel, geschlafen auch. Unser Sohn ist erwachsen, das heißt käuflich. Nach der Freude über die erfolgreiche Therapie kamen uns dann gestern die ersten Zweifel: Wie kann es sein, dass Jonas für einen materiellen Vorteil etwas weggibt, was ihm so ans Herz und in den Mund gewachsen war? Ohne mit der Wimper zu zucken, seinem jahrelangen Gefährten in Freud und Leid den Laufpass gibt für etwas Neues, Teures, Schönes? „Was meinst du“, fragte mich Anna, „wenn jemand Jonas anbieten würde, Mama und Papa gegen eine komplett ausgestattete Feuerwache mit echten Autos, Spritzen und Feuerwehrmännern einzutauschen, was würde er machen?“

Vor einem Jahr hätte ich die Antwort gewusst. Ende 2001 bin ich mir nicht mehr sicher.

Fragen zu Kindern?kolumne@taz.de

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