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bernhard pötter über KinderNur die Dummen überleben

Die Dinosaurier sind nicht ausgestorben. Die untotesten Geschöpfe aller Zeiten wohnen mitten unter uns

Ich kann das Gejammer nicht mehr hören. Ja, die Tage werden kürzer; ja, die Spielplätze stehen unter Wasser; ja, die Saison der laufenden Rotznasen hat begonnen. Na und? Dafür muss man den Nachwuchs nicht jeden Morgen mit Sunblock Faktor 93 eincremen und an jedem Kuchenteller Stichwunden von Killerwespen verarzten. Der Herbst gewährt selbst Eltern ein bisschen Muße. Zum Beispiel fürs Museum. Genauer: das Naturkundemuseum der Humboldt-Universität Berlin. Dinos gucken.

Als wir das erste Mal dorthin kamen, hatte Jonas zum Glück noch seinen gelben Fahrradhelm auf. Wir betraten den Lichthof des Museums und vor uns ragten zwölf Meter Brachiosaurus-Skelett bis unter die Decke der Halle. Jonas legte den Kopf in den Nacken, um ganz oben den Dino-Schädel zu sehen. Weiter, weiter und weiter, bis er nach hinten umfiel. Es ist immerhin das größte Saurierskelett, das frei herumsteht. Auch sonst ist das Museum sehr zu empfehlen. Überall ausgestopfte Antilopen, Büffel und Nashörner, die man streicheln kann, weil der Sparzwang immer mehr Wärter abschafft. Schaukästen mit so viel Fauna und Flora wie sonst nur vor dem Kamin eines Großwildjägers. Und mitten in diesem Fossil aus sozialistischen Tagen stehen die Dinosaurier mit Schwanzwirbeln, die bis zum Ende des Raumes auslaufen. Die Zeit hier ist irgendwo zwischen Jura und Cambrium stehen geblieben. Auf jeden Fall aber in der Ära Honecker.

Heute fällt Jonas nicht mehr um, wenn er Dinos sieht. Heute weiß er, dass ein Fußabdruck des Brontosaurus größer ist als seine Badewanne. Und dass der Schädel des Tyrannosaurus rex so groß war wie Jonas in voller Lebensgröße. „Lies mir doch die Geschichte vom Stegosaurus vor“, bittet er abends und hält das Buch mit den Urviechern in der Hand. „Und dann noch die von den Flugsauriern.“ Und jeden Abend muss ich gestehen, dass ich auch nicht weiß, warum die Dinosaurier ausgestorben sind. „Schade, dass die alle tot sind“, sagt mein Sohn. Stimmt schon. Andererseits: Eine Sorge weniger für Eltern, die um die Sicherheit auf dem Schulweg fürchten.

Dabei sind die Viecher gar nicht ausgestorben. Dinosaurier sind die untotesten Tiere, die man sich vorstellen kann. Seit „Jurassic Park“ und diversen anderen Filmen über die Superechsen und dank der geballten Macht des Reptil-Merchandisings findet sich heute kaum noch ein Malheft, Schokoriegel oder Kindermenü ohne einen superniedlich lächelnden Commerciosaurus. Der Rest der Gruseltiere ist abgemeldet. Drachen? „Nur im Märchen, Papa!“ Monster? „Die gibt’s doch nicht!“ Ungeheuer? „Das erzählt ihr nur!“ Aber dass der Waran der letzte Überlebende aus der Urzeit ist, das weiß er.

„Das ist doch ganz toll, dass sich euer Sohn so früh für Forschung, Geschichte und Naturwissenschaft interessiert“, sagt Tante Julia, die zur vom Aussterben bedrohten Gattung der möglichen Erbtanten gehört. Sie würde sich wundern, wenn sie Jonas’ Meinung zum Aussterben der Saurier hörte. Survival of the fittest. Da würde sich Charles Darwin nämlich im Grab umdrehen. „Ich will, dass nur die Pflanzenfresser überleben“, sagt er, als würde ich ihm nicht dauernd vom ökologischen Gleichgewicht predigen. „Die Fleischfresser sind alle doof. Die sollen die armen Pflanzenfresser nicht kriegen.“ In seinem Vegetarier-Wahn ignoriert er sogar wissenschaftliche Erkenntnisse: „Die Brontosaurier standen immer nur im tiefen Wasser, damit die Fleischfresser sie nicht kriegen.“

Seine Lieblinge sind Viecher wie der Stegosaurus und der Bracchiosaurus. Über die steht nun aber in seinem eigenen Buch, dass sie „ein Gehirn so groß wie ein Apfel“ hatten und „wahrscheinlich ziemlich dumm waren“. Nichts mit Survival of the fittest. Mein Kind behindert mit seinem sozialromantischen Wunschdenken die gnadenlose, aber effiziente Evolution. Wo würden wir enden, wenn nur die Dümmsten einer Gattung überlebten? Bei einer Welt voller Talkshows?

Jonas stört das nicht. Angetan hat es ihm vor allem der Stegosaurus, dieses tumbe Urvieh. Schwer beeindruckt hat ihn ein besonderes anatomisches Detail: „Der hatte ein eigenes Gehirn, um seinen Schwanz zu steuern.“

Vielleicht ist da jemand zu Unrecht ausgestorben. Denn davon träumt der Homo sapiens sapiens ja seit 40.000 Jahren.

Fragen zu Kindern? kolumne@taz.de

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