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Archiv-Artikel

berliner weinlese Weinlese am Humboldthain

Herbsten statt Sommern

„Herbsten“ heißt die Arbeit, die die Mittaner mit Tamtam und Presserummel über die Bühne bringen. Mittaner – das sind die Bewohner von Mitte. Eine sprachliche Verlegenheitslösung, besser als „die Leute aus Mitte“. „Herbsten“ aber, dieses Wort gibt es, selbst wenn niemand in Berlin es kennt. Gesagt wird es am Kaiserstuhl. Dieser Thron liegt in Süddeutschland, zwischen Freiburg und dem Rhein. Ein erloschener Vulkan ist es. Über 500 Meter hoch. Weinkenner finden ihn auf der Landkarte und Gottesanbeterinnen sind dort heimisch.

Ausgerechnet die Leute aus Mitte müssen sich nun auf den Singsang, den die Kaiserstühler sprechen, einlassen. Sie müssen neue Wörter lernen, die in einem Dialekt gesprochen sind, in dem stimmhafte und stimmlose Vokale eins sind. Denn die Leute am Kaiserstuhl können so was nicht unterscheiden. Die Zahl „sechs“ wird von ihnen wie „Sex“ gesprochen. In Berlin führt das oft zu Verwirrung.

Natürlich gibt es einen Grund, warum nun in Mitte, genauer am Humboldthain, „geherbstet“ werden muss. In den 80er-Jahren ist der Wedding, nun zu Mitte gehörend, mit Achkarren, dem beschaulichen Dorf Achkarren am Kaiserstuhl mit seinen 800 Einwohnern und Einwohnerinnen, eine Partnerschaft eingegangen. Klar, dass Achkarren in der Verbindung die Frau ist. Sie schaut zu dem stattlichen Weddingmann auf.

Was haben die hier, was sie dort alles nicht hat? Den Leopoldplatz, das Zuckermuseum, den Plötzensee. Bei so viel Glanz und Gloria gibt sich die Braut aus Achkarren bescheiden. Was schenkt sie dem Weddinger zur Festigung der Beziehung? Ein Stückchen Heimat! Im strengen Sinne können das wiederum nur ein paar Rebstöcke sein. Dazu noch das Know-how der dortigen Weinbauern. Wie ein guter Tropfen gemacht wird, das wissen die Achkarrer. Identität verbirgt sich darin.

Identität – das haben die Weddinger auch gern. Deshalb wurde das Geschenk, die inzwischen 369 Rebstöcke, in südwestlicher Hanglage des Humobldthains, unterhalb des 88 Meter hohen Bunkerberges, angepflanzt. Dem märkischen Sand wurde Schiefer zugesetzt. Der speichert Wärme und Sonne und reflektiert sie auch. Sonne gibt Süße. Dieses Jahr kann sich da niemand beklagen. Es wird ein guter Jahrgang.

Gestern wurde zum Herbsten gerufen. Mit Rosenscheren bewaffnet stehen die Mitarbeiter des Grünflächenamtes zwischen den Reben. Für die Trauben müssen sie in die Knie gehen. „Wein trinken ist leichter“, ruft jemand.

Die Weinlese am Humboldthain ist mehr Spielplatz denn Arbeit. „Nicht so schnell“, warnt Uwe Dieckow, „der Bürgermeister muss auch noch was zum Ernten haben.“ Dieckow ist der zuständige Revierleiter des Humboldthains, in dessen Obhut der verschließbare Weingarten liegt. 500 Kilo Ertrag erwartet er.

Im Alltag der Weddinger aber hat die Weinernte keinen richtigen Platz. Die Behändigkeit, mit der die Kaiserstühler die Trauben schneiden, immer zwei in einer Reihe, optimal, um dabei privat ins Gespräch zu kommen, die gibt es hier nicht. Mit Rebschere, Eimer und Mundwerk ausgerüstet ziehen die Leute dort im Süden ganze Tage lang durch die Reihen und freuen sich über frische Luft, Trauben und die klebrige Süße an den Händen. Ganz besonders aber freuen sie sich auf das Vesper. Das nämlich ist die große Zäsur, der Höhepunkt des Tages. Was schleppen die Hausfrauen, die Tanten, die Mütter nicht alles in den Berg. Leberwurstbrote, Speck, Käse, Kartoffelsalat, Bouletten, Suppen in Thermoskannen, Wein und, klar, auch den Klaren. „Das Gsellige im Weinberg beim Vesper hat schon seine Eigenheit“, sagt Waldemar Isele von der Winzergenossenschaft Achkarren.

Je länger der Tag beim Herbsten am Kaiserstuhl wird, und der ist nicht immer schön, sondern kalt und windig, je müder die Knochen werden, desto frivoler wird die Stimmung. „Kennst du den, von jenem Pfarrer, bei dem ein junges, schönes Mädchen im Beichtstuhl war …“ In Achkarren ist man katholisch.

Im Humboldthain dagegen endet alles in ratloser Diskussion. Fernsehkameras sind auf die Erntehelfer gerichtet. „Daraus soll nun Rotwein werden oder was?“, fragt jemand. „Na, Sekt“, wird geantwortet. Und wie wird der dieses Jahr? Man verweist auf den Sommer und diskutiert, was wohl ein Öchsle ist. Selbst Revierleiter Dieckow muss dafür das Lexikon wälzen. „Zuckergehalt im Most“, wird vorgelesen. Alle nicken. Zuckergehalt, das klingt gut. Am Ende gibt es Zwiebelkuchen und eine Kostprobe des Letztjährigen. Dazu ein paar gute Worte und etwas Weinseligkeit. Mehr nicht.

WALTRAUD SCHWAB