berliner szenen: Die linke Hand des Pastors
Wir sind auf dem Heimweg. In einem Vierer der U 8 finden wir Platz bei einem Mann, der uns freundlich zunickt. Auf seinem Schoß hat er, ganz fest in seinen Händen, eine Hasenhütte. „Oh“, sagt Johanna und zeigt darauf. „Haben Sie ein Kaninchen?“ „Nein. Das Häuslein gebe ich zurück an die Gemeinde. Ich brauche es nicht mehr. Mein Häslein ist am Dienstag verstorben.“ „Oh“, sagt Johanna noch mal. „Das tut mir leid. Wie hieß es denn?“ „Michael.“ Bommel, Krümel, Möhrchen, Klopfer – in meinem Kopf gehe ich Hasennamen durch. Keinen finde ich so gut wie diesen. „Jetzt muss ich mir einen Bio-Mülleimer besorgen. Vorher hat das alles mein Michael bekommen.“ Johanna meint, der Verlust eines Tieres kann ganz besonders schmerzen. Sie wisse das noch allzu gut von ihrem Dackel … „Ja, ich brauche wieder eine neue Beschäftigung. Am besten wieder in der Gemeinde. Da war ich früher sehr aktiv. Ich war mal die linke Hand des Pastors. Aber dann nicht mehr. Jetzt hab ich wieder Zeit und kann Marmelade machen, und Leberwurst!“ Jetzt erklärt er uns, wie er Leberwurst macht. Jeden einzelnen Schritt. Die Leute würden unterschätzen, wie viel Kraft man dafür brauche. Aber der Aufwand würde sich lohnen, fügt er hinzu. In üblichen Sturzgläsern sein die Würste locker sechs Monate haltbar. „Viel Zwiebeln, bisschen Cognac, ordentlich Petersilie“. Dann seufzt der Mann. „Ach, die Petersilie hat mein Michael so gern gemocht.“ Jetzt erklärt er uns, wie er Marmelade macht. Jeden einzelnen Schritt. Und wie stolz er dann die Gläschen durch die Gemeinde trägt und jedem eines gibt. Als seine Haltestelle naht und er sich zum Aussteigen bereit macht, gibt er uns noch mal die genaue Rezeptur durch. Dann seufzt er wieder, und ich kann’s mir schon denken: Die Erdbeeren hat sein Michael sicher auch gern gemocht.Lars Widmann
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