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berliner szenenKafkaistgestorben

Ein Silberfischchen kreuzt meinen Weg, als ich mich nachts ins Klo zwänge. Ich stoße meine Hüfte am Waschbecken. Aua. Das Silberfischchen ist kleiner als die Tage zuvor. Die Essigbehandlung von Y. scheint zu helfen. Als ich auf dem Klo sitze, fällt die Deckenleuchte, die seit gestern auf dem schmalen Regal liegt, krachend zu Boden. Vorsichtig steige ich über die Scherben. Bloß weg hier. Erneut stoße ich meine Hüfte. Diesmal die andere an der Heizung. Unser Bad ist wirklich nur ein Schlauch.

Zurück im Bett lausche ich den Sirenen des Kottbusser Damms und träume schon bald von den frischen Bageln, die Y. früh am Morgen aus unserem Sauerteig backen will. Unser Sauerteig heißt Kafka und lebt nun schon drei Wochen. Viel zu schnell wache ich wieder auf. In der Wohnung unter uns machen sich Handwerker zu schaffen. Durch die Wand hört es sich an, als würden sie direkt neben meinem Ohr eine Heizung montieren. Ein wenig verklatscht mit halb geschlossenen Augen trotte ich in die Küche. Das Radio läuft. Gerade gibt es Verkehrsnachrichten. Stau auf der A3, wie immer. Heute scheint sich der Stau auch in meinem Kopf ausgebreitet zu haben. Ich schalte um auf den Country-Kanal und schenke mir Cowboy-Kaffee in unsere Princess-Diana-Tasse. In eine Decke gewickelt setze ich mich auf die Fensterbank. Draußen ist alles wie immer. Die Mülltonnen laufen über. Eine Million Räder blockieren den Rest der Fläche. Auch unser Hinterhof ist nur ein Schlauch. In der Küche ist überall Mehl verteilt. Ich nehme einen beißenden Geruch wahr.

Y. kommt herein. Sie weint ein bisschen. „Kafka ist gestorben“, sagt sie. Das muss der eklige Geruch sein, denke ich und tröste sie. Später begraben wir Kafka. In der Biomülltonne. Und beten ein bisschen. Zu Cowboy Jesus natürlich, nicht zu Gott.

Milena Wolf

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