berliner szenen: Schwarze Milch der Frühe
Strömender Regen. Eine Seltenheit. In einer Bushaltestelle am Anhalter Bahnhof stelle ich mich unter. Kann ja nicht lang dauern die Seltenheit. Wäre direkt unlogisch, denke ich.
Ich hole eine Trinkflasche aus meinem Rucksack. Ein älterer Mann wartet ebenfalls.Vielleicht auf den Nachtbus, vielleicht auf den Sonnenaufgang. Der Mann scheint das Warten gewohnt zu sein. Er zeigt keine Ungeduld, hat die Augen geschlossen, schläft aber nicht, spricht leise mit sich selbst. Ich höre kurz hin, neugierig darauf, was ihn beschäftigt, aber seine Worte bleiben mir unverständlich. Er trägt einen Wintermantel und eine Wollmütze, beides nicht mehr im besten Zustand. Eine seltsame Aufmachung im Hochsommer. Selbst in der Nacht sind es aktuell noch um die 20 Grad. Ein strenger Geruch geht von ihm aus. Eine Mischung aus Schweiß und Alkohol.
Ich halte innerlich Abstand, konzentriere mich auf die Erfrischung aus der Trinkflasche. „Hätten Sie einen Schluck für mich übrig, junger Mann?“ Er schaut mich an, als hätte er großen Durst. Seine Augen haben einen erschöpften, flehenden Ausdruck. „Das ist nur Wasser“, sage ich mit einem entschuldigenden Lächeln. Warum glaube ich, mich entschuldigen zu müssen? „Ja schon recht, ich habe wirklich Durst.“, sagt er und streckt seine rechte Hand nach mir aus.
Ich mache zwei Schritte auf ihn zu und reiche ihm die Flasche. Sie ist noch halbvoll. Er trinkt und trinkt. Er trinkt sie leer, ohne sie abzusetzen. „Danke“, sagt er, schließt die Augen und setzt seine Murmelei fort. Mit einem Mal meine ich zu verstehen, was er von sich gibt, die ersten Zeilen eines Gedichts, das ich vor Kurzem erst wieder gelesen habe: „Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts …“
Henning Brüns
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