piwik no script img

berliner szenenJesus im Second­hand-Shirt

Wenn ich etwas über Secondhandplattformen kaufe, kommt in dem Päckchen meistens lediglich das gewünschte Produkt. Manchmal liegt noch eine Grußkarte bei oder eine Mini-Packung Gummibärchen, was ich schon fast aufdringlich finde. Doch das sind alles Peanuts im Vergleich zu dem Umschlag, den ich gestern geöffnet habe. Bestellt hatte ich ein T-Shirt – und bekam zusätzlich einen mehrblättrigen Flyer: „Die wichtigste Entscheidung im Leben!“ Ich öffnete das Faltblatt und erfuhr, dass die Schuld das größte Problem des Menschen sei: „Wir haben Gott und seine Ordnungen missachtet. Wir sind unseren eigenen Weg gegangen. Wir haben uns von Gott entfernt und damit seinen Zorn verdient.“ Auf den weiteren Seiten wurde man beraten, wie man Jesus dazu einzuladen könnte, in sein Leben zu kommen. Um diesen Prozess zu unterstützen, lag dem Flyer noch ein Gutschein bei, mit dem ich das Taschenbuch „Jesus unser Schicksal“ und die Bibel bestellen konnte. Verwirrt klappte ich den Flyer wieder zu und öffnete das Verkaufsprofil auf meinem Laptop. Bestimmt war ich nicht die Einzige, die von der Verkäuferin diesen Flyer bekommen hatte. Bestimmt hatten sich schon andere Käuferinnen darüber in den Bewertungen beschwert. Falsch gedacht. Alles fünf Sterne: „Alles prima, ganz lieber Kontakt, Schuhe super und kleine Aufmerksamkeit dazu gepackt“, schrieb eine von ihnen. Eine andere säuselte: „Alles bestens, gerne wieder. Dankeee für die Überraschung.“ Überraschung? Kleine Aufmerksamkeit? Hatten die alle den Gutschein bereits eingelöst und waren auf ihrem Weg zu Jesus? Ich überlegte kurz, der Käuferin wenigstens persönlich zu texten, dass ich derartige Bekehrungsversuche echt panne finde, entschied mich aber dann, lieber diese Berliner Szene zu schreiben. Eva Müller-Foell

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen