berliner szenen: Geometrie,kurz vorSpandau
Im ICE pfeift der Wind durch die Türritzen. Draußen Felder. „Guck, Rehe“, ruft das Kind. Ich bin nicht schnell genug. Die Landschaft rauscht vor den Fenstern vorbei. Die Rehe rauschen nicht mit. Vor ein paar Stunden waren wir noch im Schwarzwald. Da haben wir Rehe gesehen. Auf jedem zweiten Feld. Dieser Zug ist nicht unser Zug. Die Deutsche Bahn hat die Verbindung nach Berlin gestrichen. Im Ausweichzug haben wir keine Sitzplätze, wir haben Brandenburg vor den Türfenstern. Mit uns sind drei Mädchen. Sie sortieren sich. Sie entscheiden sich, ein liegendes, gleichschenkliges Dreieck zu sein. Das Hypothenusenmädchen ist jünger und kleiner. Es hält, wie seine Schwestern, ein Handy. Es betrachtet Fotos. Ich erkenne die anderen beiden. Ich erkenne die Landschaft, aus der wir selbst kommen. Flaches Land, in allen Blickrichtungen ranken Berge. Immer wieder steigen Menschen sachte über das Mädchendreieck. Sie treten in die Mitte. Sie winden sich an den Katheten vorbei. Die Mädchen nehmen keine Notiz. Sie schieben mit den Fingern die Bilder von einer auf die andere Seite. Sie sehen sich nicht an. Sie zucken nicht für das Pfeifen des Windes. Und auch nicht für die Frau, die kurz nach der Dreieckswerdung zu uns tritt. Sie verlässt ihren Sitzplatz. Sie steigt auf eine Stufe in der Tür hinab. Sie wird gegen den Wind telefonieren. Sie wird rufen: „Lissi! Weißt du denn gar nicht, was für ein Glück du hast!“ In breitem, nicht zu verschriftlichem Bayrisch, in Beige.
Ich stehe auf. Vielleicht sollte ich uns Kaffee im Bistro holen und etwas mit Zucker. „Süße!“, ruft die Frau in der Tür. „Er ist ein kleiner Mann, aber du bist auch eine kleine Lissi.“ Das Kind wünscht sich Rehe. „Nächster Halt: Spandau.“ Ich mache einen Schritt um das Mädchendreieck herum und weg von Lissis Glück. Sie kauen schweigend Maiswaffeln.
Klaus Esterluss
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