berliner szenen: Im Frühling Ruhe bewahren
Zuerst höre ich nur ein Knistern. Ich nehme es wahr und ich nehme es nicht wahr. Eigentlich versuche ich zu schlafen. Es ist kurz vor Mitternacht. Das seltsame Knistern scheint nicht aus der Lunge zu kommen. Meine Atmung funktioniert reibungslos. Trotz der leidigen Blütenpollen, die mich Tag und Nacht verfolgen. Beruhigt schließe ich die Augen. Das Knistern ist weg. Für einen Moment genieße ich das Unglaubliche, die Stille in einem Neuköllner Hinterhof, höre mich aber weiter um. Mit einem Mal ist da ein Rascheln, als würde trockenes Herbstlaub hin- und herbewegt. Das Rascheln wird lauter. Was kommt als nächstes? Der Laubbläser des Hausmeisters? Ich muss das Fenster schließen, es geht nicht anders. Ich sitze schon auf dem Bettrand, als sich der vermeintliche Störenfried auf der Fensterbank zeigt. Der oben eingerollte, buschige Schwanz macht das kleine Tier unverwechselbar.
Ich schlüpfe vorsichtig unter die Decke, um es nicht zu vertreiben. Ich freue mich über seinen Besuch. Mutig springt es auf das Bücherregal. Vielleicht um sich einen Überblick über die Räumlichkeit zu verschaffen, in die es unvermittelt geraten ist. Will es womöglich bei mir einziehen? Ich wäre unbedingt dafür. Das zauberhafte Wesen sitzt dort oben wie angewachsen. Es scheint mich zu beobachten, testet meine Eignung. Ich muss mich bewähren, darf es nicht verschrecken.
Leider passiert, was immer passiert, wenn ich im nahenden Frühling Ruhe bewahren möchte. Ich kann seine Botenstoffe nicht für mich behalten. Ein pompöser Luftschwall reißt ein Loch in die Beschaulichkeit des Augenblicks. Selbst die vorgehaltene Daunendecke kann die Situation nicht retten. Als ich die Augen voller Tränen wieder öffne, hat sich der neue Mitbewohner längst aus dem Staub gemacht.
Henning Brüns
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen