berliner szenen: Damals und heute mit dem Rad
Es war der erste Tag der ersten Fahrradreise meines Lebens. Ich bin aufgeregt und glücklich. Die irische Sängerin Róisín Murphy klingt in meinen Ohren, an jenem Tag und heute, vier Jahre später. Damals hörte ich sie, als ich in einem weißen T-Shirt und mit Neon-Fahrradhandschuhen um 6 Uhr morgens meine Wohnung verließ. Ich fuhr durch die leeren Straßen Richtung Norden. Am Plötzensee vorbei wurde ein Fußballfeld gegossen. Es roch nach nassen Wiesen und nach Sommer. Es ging nach Rostock, aber schon Oranienburg kam mir wie eine andere Welt vor. Die erste Nacht dieses Trips verbrachte ich in Zehdenick.
An dieses Abenteuer erinnere ich mich, während ich im Fitnessstudio in Neukölln Fahrrad fahre, ohne einen Millimeter voranzukommen. Es werden mir abwechselnd Entfernung, Zeit und Kalorienverbrauch angezeigt. Das interessiert mich aber nicht. Vielmehr konzentriere ich mich auf die Eindrücke aus den vielen Radtouren, die jener ersten folgen sollten und die ich vor meinem inneren Auge wiedersehe. Schon alleine aus Berlin habe ich eine Menge Bilder im Kopf von vielen verschiedenen Ecken, die ich abgefahren bin: Tegeler See, Stralau, Teltowkanal, Köpenick, Kladow …
Seitdem mir mitgeteilt wurde, dass ich trotz Kreuzbandriss dieses Fahrradgerät benutzen darf, bin ich von meinen Gym-Besuchen ein bisschen mehr begeistert. Schwitzend tanze ich auf dem Rad, wie ich es im echten Leben immer gerne gemacht habe. Obwohl ich mich weiterhin frage, warum alle hier drinstecken, wenn sie die gleichen Übungen da draußen machen könnten, finde ich es weniger schlimm dazuzugehören. Wenn ich die Stadt in meiner Fantasie wieder erkunde und meine eigene Karte davon durchgehe, wird dieser für mich seelenlose Ort ein bisschen weniger seelenlos.
Luciana Ferrando
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