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berliner szenenLeute von heute und morgen

Ausgang Sonntagstraße am Bahnhof Ostkreuz. Ich warte am Gleis 8 auf meinen Zug ins Wochenende. Wie immer bin ich viel zu zeitig aufgebrochen. Um mich nicht hetzen zu müssen. Ich mag es nicht, mich hetzen zu müssen. Ich bin ja nicht auf der Flucht. Oder etwa doch? Mache ich nicht jedes Wochenende die Fliege vor dem Wahnsinn der Großstadt? Bin ich darum nicht auch heute schneller in die Pedale getreten als nötig? Egal, fest steht, ich muss mich wieder einmal in Geduld üben. Wenigstens kann ich machen, was ich gerne mache: Leute beäugeln. Die breite Treppe zu den S-Bahnsteigen ist dicht bevölkert. Der Bahnhof liefert Leute wie am Fließband. Mützenleute, Kopfhörerleute, Leute von heute, morgen oder gestern. Das Einzige, was sie verbindet, ist der winzige Augenblick, in dem ich sie wahrnehme.

Vor der gut besuchten Ketwurst-Bude erkennen sich überrascht voneinander eine jüngere Frau mit Sonnenbrille im Haar und ein hünenhafter Mann mit Hund an der Leine. Der ebenfalls nicht kleine Hund hat einen riesigen Kopf. Er ist aufgeregt und springt an der Frau hoch. Die Frau erschrickt und versucht ihn mit beiden Händen abzuwehren. Der Mann ruft das Tier zur Ordnung, es gehorcht. Der Mann und die Frau lachen sich hilflos an, tauschen nervös aufgeregte Sätze. Beide scheinen verlegen zu sein.

Plötzlich setzt die Frau die Sonnenbrille auf und hat es eilig, verabschiedet sich in Richtung Treppe. Der Mann bleibt stehen, schaut der Frau hinterher. Vielleicht überlegt er, ihr zu folgen. Vielleicht auch nicht. Der Hund gähnt und legt sich hin. Ihm scheint die Warterei nichts auszumachen.

Mein Zug fährt ein. Ich muss mich beeilen. Um Zeit zu sparen, möchte ich unbedingt ganz vorn aussteigen, wenn ich in meinem Wochenende angekommen bin. Henning Brüns

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