berliner szenen: Sechsjährige Jessica sucht ihre Mama
Die Sonne steht hoch überm Pool. Weit oben wartet verloren eine Babywolke auf Anschluss, und ein Kormoran segelt geschäftig durchs Himmelblau. Der Vater herrscht den Sohn vom Beckenrand an: „Zieh durch, Junge!“ Der Sohn müht sich ab, er paddelt und japst im Wasser wie ein junger Hund. Ein anderer Mann ohne Sportbeckenlizenz versucht sich verzweifelt im Freistil, doch ohne Technik wird das nix. Schließt man die Augen, explodiert ein Feuerwerk nach dem anderen, als wäre man auf Acid. Auf einmal Tumult. Ein paar Teenager üben Arschbombe. Es splisht und splasht. Die Sonnenanbeter auf ihren Handtüchern werden nass und beschweren sich. „Meine Fresse“, ruft empört eine Dame im schwarzen Badeanzug. Sie trägt einen Sonnenhut und knallroten Lippenstift und wartet auf ihren Martini. Der Bademeister kommt herbeigeeilt. Er schwingt die Trillerpfeife und klärt die Situation mit Grandezza.
Schwimmflügel sind nicht erlaubt. Schwimmflügel bitte in den Nichtschwimmer! Der Nichtschwimmer heißt so, weil sie hier dicht an dicht stehen wie auf der Fanmeile. Zum Schwimmen ist kein Platz. Ein Kind brüllt wie am Spieß, eine Mutter lacht, ein Junge stößt einen schrillen Pfiff aus. Fehlt noch, dass ein Köter angewetzt kommt, aber Köter sind nicht erlaubt, nicht mal im Nichtschwimmer. Ein Kind trägt die Schwimmbrille verkehrt herum im Gesicht. Taucht es auf, ist die Brille voll Wasser und die Augen schauen wie hungrige Kugelfische aus dem Aquarium.
Mit Knistern und Knacken meldet sich der Bademeister über die Lautsprecheranlage: „Liebe Badegäste!“ Er macht eine Pause. Geraschel. Alles hält den Atem an und lauscht. „Die sechsjährige Jessica sucht ihre Mama. Ich wiederhole: Die sechsjährige Jessica sucht ihre Mama. Bitte am Bademeisterturm abholen.“ Aber niemand kommt.
Sascha Josuweit
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