berliner szenen: Ich sehe was und du nicht
Am frühen Abend in der S-Bahn. Ich war auf dem Tempelhofer Flugfeld, habe mir den Wind um die Ohren wehen lassen und fühle mich wie nach einem Tag am Meer, etwas schlapp von der Sonne. Ein Vater in Tuchhose und hellblauem Hemd spielt mit seinem etwa vierjährigen Sohn „Ich sehe was, was du nicht siehst“ Der Kleine mit einem Basecap rennt dabei aufgeregt hin und her, schwingt sich mit einem Arm mal um die Mittelstange, klettert auf den Sitz, dann wieder herunter und sieht in der Gegend herum, während er etwas Orangefarbenes erraten soll. Nach ein paar vergeblichen Versuchen errät er schließlich die orangefarbene Linie der U9 auf dem Streckennetzplan. Jetzt denkt sich der Junge etwas aus. Er steckt einen Finger in den Mund und guckt wirr umher. Wahrscheinlich, um seinem Vater nicht durch die Blickrichtung zu verraten, wohin er sieht. Geschickt für das Alter, finde ich. Der Vater schiebt sich seine Brille auf die Nase zurück und beginnt zu raten.
Er rät und rät. „Der Streifen auf dem Aufkleber?“ Der Junge schreit aufgeregt: „nein!“
„Die Lasche von deinem Rucksack?“ Der Junge schüttelt den Kopf.
„Die Leuchtschrift in der Anzeige?“ Der Junge schüttelt wieder den Kopf und freut sich. „Puh“, sagt der Vater, „also ich glaube, ich finde das nicht.“
Der Junge zeigt triumphierend hinter den Vater und ruft: „Da hinten das Schild ist es! Ich hab gewonnen!“ Der Vater dreht sich um und sagt: „Das ist ja in meinem Rücken, das sehe ich ja gar nicht.“
Der Junge bleibt vor dem Vater stehen, sieht ihn mit diesem Blick an, wie Kinder manchmal Erwachsene ansehen, und sagt: „Aber so heißt das Spiel doch!“ Der Vater und ich müssen lächeln. Dann sagt der Vater: „Du hast recht, genauso heißt das Spiel. Drei zu null für dich.“ Isobel Markus
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