berliner szenen: Die Eichen vor den Eschen
Vorm Westkreuz saust die Ringbahn am maigrünen Blätterkranz der Stadt vorbei – der inzwischen Lücken aufweist dort, wo sich terrassenartige Neubauten trotz oder gerade wegen der erschwerten Erschließung der abschüssigen Flächen überraschend dicht an die Oberleitung der Bahnstrecke schmiegen. Wir passieren, im fast leeren Waggon sitzend, Eschen, Akazien, Ahorn, Haselsträucher, einige Eichen. Die seltene Leere in der Bahn ernennt Redende zu Rednern, Solisten, Schauspielern. Macht Mitfahrende zu Lauschenden.
„Ash“, sagt ein Mädchen und drückt ihren Finger gegen die vielfach fingerbedruckte Scheibe. „Right“, bestätigt die Mutter. Verfolgt mit ihren Augen die vorbeirauschenden Eschen. Das Spielchen wird fortgesetzt: „Acacia“, sagt jetzt die Mutter, „Maple“ die Tochter, beide nach draußen spähend. Als eine Gruppe von Haselsträuchern vorbeiflitzt, rufen sie gleichzeitig: „Hazel“. Schlecken ihr Eis. Längere Pause. „Ash before oak –“ – sagt die Mutter nun bedeutungsvoll, worauf die Tochter den Reim mit „In for a soak“ vollendet. Auf das „Oak before ash“ der Mutter lässt die Tochter erneut vier Wörter aus ihrem Mund turnen: „In for a splash“.
Mir fällt die deutsche Entsprechung ein: „Grünt die Esche vor der Eiche, bringt der Sommer große Bleiche. Treibt die Eiche vor der Esche, hält er große Wäsche.“ Die sag ich her. Klingt etwas gestrig. Die beiden spitzen die Ohren. Bahnen sind auch zum Sprachenlernen gut. Und zum Lachen. Ich überlege: Waren in diesem Jahr die Eichen nicht früher als die Eschen? Das hieße ja Sommerregen, mäßige Temperaturen! Zweck meiner Fahrt war eigentlich der Kauf eines Ventilators, jetzt, bevor sich die große brütende Hitze in den Großstadtmauern eingenistet hat. Ach, ich lass es mal sein. Geh im helllichten Sonnenschein Eis essen. Felix Primus
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