berliner szenen: Gegen den Wahnsinn ansingen
Liebe ist, wenn es …“, tönt aus den Boxen der Supermarktlautsprecher. Ich singe im Kopf mit. Die Werbung läuft in dem Supermarkt seit Monaten in Dauerschleife und ich bin mehrmals in der Woche da. Auf dem Weg zum Ausgang sehe ich zwei der Männer, die die Regale umräumen, mit ihren Kisten durch den Gang tanzen. „Liebe ist …“, singt der eine mit übertrieben melodramatischer Stimme und legt die Hand auf sein Herz. Der andere schneidet eine Grimasse und stimmt ein. Sie stellen ihre Kisten ab, nehmen sich an den Händen und machen Walzerbewegungen. Die Umstehenden lächeln. Ein circa fünfjähriger Junge ahmt ihre Tanzbewegungen nach und stößt dabei in einen älteren Herrn, der gerade das Kleingedruckte einer Packung Eier studiert. Der alte Herr murrt etwas Unverständliches in seinen Lippenbart. Augenblicklich nehmen die beiden Mitarbeiter ihre Kisten wieder auf und sortieren mit betont roboterhaften Bewegungen H-Milch in ein Regal ein.
Ich muss an meine Studentenjobs als Hostess auf irgendwelchen Messen denken. Bei denen habe ich, um die Eintönigkeit der aus nichts weiter als Herumstehen, Lächeln und freundlichen Grüßen bestehenden Jobs zu überleben, auch immer mit Kolleginnen die Lieder in den Messehallen oder die Posen der Models auf den nahegelegenen Bühnen parodiert. Aus einer solchen Messeblödelei mit einer Kommilitonin, mit der ich mir einen Wettkampf lieferte, wer das schlimmere Denglisch sprechen könne, bin ich noch heute befreundet. Gemeinsam gegen den allgemeinen Wahnsinn ansingen und antanzen, denke ich, ist doch noch immer die beste Methode, trotz allem nicht den Spaß zu verlieren. Ich strahle die Mitarbeiter mit der H-Milch im Vorbeigehen an und tänzele zum Sound des nächsten Werbesongs zur Kasse.
Eva-Lena Lörzer
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