berliner szenen: Wer ganz ehrlich berichtet
Eigentlich fing alles gut an. Ich war in einem Fotostudio in Schöneberg, um neue Passbilder von mir machen zu lassen. Da ich am Vorabend zu viel Bier getrunken hatte, schmückten mein Gesicht ziemlich tiefe Augenringe. Kein guter Tag für Passbilder, aber der Fotograf war so freundlich, sie etwas zu retuschieren. Nachdem ich die Fotos gezahlt hatte, fragte mich der Fotograf, wofür ich die Fotos bräuchte. „Für meinen neuen Presseausweis“, antwortete ich und ahnte nicht, in welches abstruse Gespräch mich der Fotograf nun ziehen würde.
Mein Presseausweis war für ihn ein gefundenes Fressen, um seinen Unmut kundzutun. Er meinte, dass die öffentlich-rechtlichen Medien sehr tendenziös seien, auf jeden Fall nicht neutral. Er fragte mich, für wen ich arbeiten würde. „Ich bin freie Journalistin“, sagte ich. Daraufhin fragte er mich, ob ich den Reichelt kennen würde. „Julian Reichelt?“, fragte ich nach. Er nickte und erzählte allen Ernstes, dass Reichelt gerade für ein neues Format nach Journalisten suchen würde, die ganz ehrlich berichten wollen. „Vielleicht wäre das auch was für dich“, meinte der Fotograf. Ich schüttelte energisch den Kopf: „Da bleib ich lieber freie Journalistin.“
„Oder bewirb dich bei Kla.tv, die sind auch wirklich unabhängig in ihrer Meinung.“ Mir blieb die Spucke weg und ich fragte mich, wie ich darauf reagieren sollte. Kla.tv, eigentlich „Klagemauer.tv“, ist ein Internetsender, der allerhand Verschwörungserzählungen verbreitet. Von da aus führte der Fotografen-Monolog schnell zur AfD, „der einzigen Opposition in diesem Land“. Ob ich die Passbilder auch digital bräuchte?, fragte mich der Fotograf, als meine Hand schon die Türklinke berührte. Das würde nochmal zehn Euro kosten. Normalerweise hätte ich Ja gesagt, aber jetzt schüttelte ich nur den Kopf.
Eva Müller-Foell
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen