berliner szenen: Schirme aus dem Raumschiff
Ich war sofort dagegen, als mir jemand erzählte, dass die Staatsbibliothek am Potsdamer Platz grundsaniert wird. Mir gefällt die Atmosphäre eines heruntergekommenen Raumschiffs: Man fühlt sich als eine der Generationen, die nur die Jahrhunderte überbrückt. Weder hoffnungsvoll noch verzweifelt geht man Tag für Tag seiner Tätigkeit nach. Nickt einander im Gang zu.
Episode aus dem vergangenen Jahr: Am frühen Abend rauschte ein Regenguss wie schwerer Stoff, unter dem Vordach sammelten sich Leute an. Abseits standen drei vom Wachpersonal, die in meinem Kopf „der Hagere“, „die Müde“ und „der Missmutige“ heißen. Während die beiden Männer reinschlurften, trat „die Müde“ zwischen Wartende und Regen. „Hörn Se mal“, sagte sie mit Berliner Festigkeit, „Ick jehe davon aus, dass von Ihn' alle keen Schirm haben.“ Schweigen. Eine Studierende mit Fjällräven-Rucksack nahm sich ein Herz und sagte: „Nein“. – „Jut, dann folgen Sie mir mal unauffällig!“ Nach kurzem Zögern folgte ihr die Hälfte in die Eingangshalle, zwischen Spanplatten hindurch in einen Bereich, der schon renoviert wurde. Plötzlich waren wir eine Gruppe, aufgeregt, weil wir an etwas Ungewöhnlichem teilnahmen. Die Studierende mit dem Fjällräven und ich lächelten uns kurz zu, zu Gesprächen reichte es nicht. Wir hielten vor einer großen, marmornen Garderobe. Baustaubbedeckt, sie schloss daneben eine Tür auf. „Da ham Se wirklich Glück jehabt“, sagt sie, „Von die Kollegen weeß dat keener.“ Sie schob mit dem Fuß einen Pappkarton in unseren Halbkreis. „Dit sin Schirme, mal so Werbejeschenke gewesen. Bedienen Sie sich bitte, dann sind se endlich weg.“
Den Schirm (hässlich blassgelb) habe ich bis jetzt nur an jenem Abend benutzt. Aber vielleicht gehe ich mal damit spazieren, wenn die Staatsbibliothek wegen Renovierung geschlossen wird.
Jonathan Ruyters
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