berliner szenen: Zucker gegen den Stress
Nach einem Spaziergang im Plänterwald stehen eine Freundin und ich in Alt-Treptow auf der Karl-Kunger-Straße und halten einen kurzen Plausch. Ihr Hund sitzt währenddessen brav im Fahrradkörbchen. Kurz nachdem meine Freundin weggeradelt ist, spricht mich eine Frau Mitte 40 an, die uns von der Straßenecke aus beobachtet hat. „Das ist nicht der richtige Korb für den Hund. Hinten auf dem Rad sieht er ja gar nicht, was vorne passiert. Er sah ganz ängstlich aus“, sagt sie.
Ich nicke. „Ja, das ist eh ein kleiner Angsthund.“ Da wird sie direkt hellhörig. „Angsthunde! Ja, da soll sie mal Bachblütentropfen ausprobieren. Und Arnica D6, das hilft gegen Angst bei Hunden und gehört sowieso in jede homöopathische Hausapotheke.“ Auweia. Seltsames Paradoxon, die Kombination aus Homöopathie und Apotheke. „Ich weiß nicht, ob reiner Zucker so gut für den Hund ist“, merke ich vorsichtig an. Dann mustert sie mich eingängig: „Wenn ich dich so anschaue, dann könntest du das sicher auch gut gebrauchen. Arnica D6, das wirkt Wunder gegen Stress.“
Sieht man mir meine Macke jetzt an der Nasenspitze an? „Okay, danke für den Tipp, ich muss dann auch mal weiter, ist schon spät“, sage ich und schiebe demonstrativ mein Fahrrad vor. „Welches Sternzeichen bist du denn?“, fragt sie. „Skorpion, aber ich muss jetzt wirklich los“, antworte ich und hoffe, dass sie mich nicht nach meinem Aszendenten fragt. „Ah, Skorpion, das passt zu dir, du hast so eine Aura. Na dann, komm gut nach Hause und probier wirklich mal das Arnica D6 aus. Hab noch einen schönen Sonntag, denn heute ist Neumond in Waage.“
Damit entlässt die Hobbyastrologin mich und meine gestresste Skorpionaura in die wilde Neumondnacht. Nach dieser Begegnung brauche ich vielleicht wirklich eine Dosis Arnica D6.
Julia Tautz
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