berliner szenen: Das verdächtige Mädchen
Eine Kundin sagt der Supermarktkassiererin etwas ins Ohr, beide schauen das Mädchen an, das hinter mir steht. Ich spüre die Spannung in der Luft, diese Art von Flüstern schaudert mich. Das Mädchen ist vielleicht kein Mädchen mehr, doch älter als 18 ist sie vielleicht auch nicht, denke ich. Sie legt eine Flasche Korn auf das Kassenband und redet leise vor sich hin. Unsicher, ob das eine gute Idee ist, frage ich sie, ob ich sie vorlassen soll, sie schüttelt den Kopf.
„Was hast du in deinen Jackentaschen?“, fragt nun die Kassiererin. Die junge Frau scheint das zuerst nicht zu verstehen. Dann nimmt sie einen zerknitterten Zettel mit dem Logo vom Jobcenter aus einer Tasche. „Ich Jobcenter“, sagt sie und zeigt auf das Jobcenter, das sich im gleichen Haus wie der Supermarkt befindet. Die Kassiererin guckt sie eine Weile mit einer Mischung aus Mitleid und Erschöpfung an. „Hast du etwas in deine Tasche eingesteckt?“, fragt sie diesmal, als würde sie mit einem Kind sprechen. Es kommt keine Antwort.
In meiner Wahrnehmung dauert die Szene ewig. Die Schlange wird immer länger, doch niemand beschwert sich. Auch diejenigen, die schon bezahlt haben, rühren sich nicht von der Stelle. Bleiben die anderen aus Schaulust oder machen sie sich auch Sorgen um die junge Frau? Erwartet die Denunziantin, dass jemand die Polizei ruft? Warum geht sie nicht? „Was hast du noch in deinen Taschen?“, hakt die Kassiererin ein letztes Mal nach. Mit brüsken Bewegungen leert die junge Frau den Inhalt ihrer Taschen: eine Packung Zigaretten, ein Feuerzeug, Kopfhörer und Kupfermünzen liegen jetzt zerstreut auf der Band.
Die Kassiererin vergräbt das Gesicht in den Händen. „Okay, okay“ sagt sie und nimmt den Fünf-Euro-Schein, der von Anfang an unter der Schnapsflasche lag.
Luciana Ferrando
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