berliner szenen: Paranoia mit vielen Schlüsseln
Als ich an einem Freitagmorgen das Haus verlasse, steckt ein Ring mit vielen Schlüsseln in der Haustür. Alle sehen nach Generalschlüsseln aus. Ich erstarre kurz. Dann ziehe ich den Schlüsselbund ab und bringe ihn in meine Wohnung. Auf der Arbeit aber lässt mir der Gedanke an ihn keine Ruhe.
Seit ein paar Wochen steht ein Mann, mit dem ich mich einmal kurz unterhalten habe, wann immer ich morgens zum Bus gehe, an der Bushaltestelle, starrt mich an und geht weiter, sobald ich in den Bus steige. Vor circa zwei Wochen stand er auch an der Bushaltestelle, als ich nach Hause kam, und folgte mir bis zu meiner Straße. Statt in mein Haus zu gehen, lief ich bis zum Ende der Straße und blieb dort so lange stehen, bis ich sah, dass er sich wegbewegte.
Als ich gestern mit meiner Tochter nach Hause kam, stand der Mann mit einem Mal im Hausflur. Und schien sich unwohl zu fühlen: Statt zu grüßen, ging er schnell. Und nun also dieser Schlüsselbund. Ob der Mann gestern mit einem der Schlüssel in unser Haus gekommen ist? Ein Nachbar ist er jedenfalls nicht. Das wüsste ich. Zurück zu Hause sehe ich mir den Schlüsselbund genauer an. Auf einem kleinen Schild steht, dass er zu einem Zeitungszustellunternehmen gehört, das bei einem Fund eine Belohnung verspricht. Erleichtert beschließe ich, am nächsten Tag anzurufen und lache über meine Paranoia. Um drei Uhr morgens aber klingelt es. Erst kurz, dann länger. Meine Tochter, von der Klingel geweckt, sitzt zitternd in ihrem Bett: „Wer ist das? Was soll das?“ Ich öffne die Jalousien des Kinderzimmers und sehe aus dem Fenster. Da steht ein Mann und ruft verzweifelt: „Hast du meinen Schlüsselbund gefunden? Ohne ihn werde ich gefeuert!“ Ich nicke, werfe den Schlüsselbund aus dem Fenster und schüttle noch lange den Kopf.
Eva-Lena Lörzer
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