berliner szenen: Die Musik, die die Tante liebte
Meine Lieblingstante ist gestorben, am anderen Ende der Welt. Ich kann mich nicht von ihr verabschieden, dort, wo sie begraben sein wird.
Am Tag der Beerdigung steige ich mit gereinigtem Dienstanzug überm Arm in die U-Bahn, verlasse sie am Heidelberger Platz. Wie viel Trinkgeld die Konzertbesucher uns Abenddienstlern wohl heute geben werden, sinne ich beim Aussteigen. Doch eigentlich sind meine Gedanken am anderen Ende der Welt. Die Schritte der Fahrgäste lassen das imposante Gewölbe des Bahnhofs erschallen. Ich habe Zeit beim Umsteigen und warte, bis die Menschen fort sind.
Dann wehen die Töne eines Akkordeons an mein Ohr. Der Musiker, genauer: der Bajanist, wie ich jetzt sehe, spielt etwas Slawisches. Klangkaskaden nehmen nun diesen Prachtbau der U-Bahn ein. Ich bleibe stehen vor dem Künstler, einen Augenblick – und noch einen, und dann hat er das soeben noch vor Kraft strotzende Musikstück leise verklingen lassen. Ganz kurz hält er inne, zieht Luft in den Balg, lässt sie ihm wieder entströmen. Und nun ertönt, mit anderem Timbre, eine Scarlatti-Sonate. Ich erkenne in ihr eines der Bravourstücke der Tante wieder. Brausend vital wie Wanda Landowska hatte sie es einst gespielt. Mein Blick wandert inwärts, dann zu den historischen Fotos und Stichen Heidelbergs an den Bahnhofswänden. Schloss, Neckar … Da begreife ich, dass mir hier eine persönliche Gelegenheit des Adieus von meiner Tante zuteil wird. Sie hatte in Heidelberg studiert und mir, als ich noch ein Kind war, von den Gässchen erzählt, von der Universität. Und dass sie mit dem Cembalo, das ihr Vater für sie gebaut hatte, zum ersten Semester in eine Mansarde hoch über dem Fluss gezogen war.
Tränen fließen mir, weiche Tränen, die andernorts nicht gekommen wären.
Felix Primus
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