berliner szenen: Ein traurig klingendes Lied
Wieder war der M29 zu spät dran. Ich hätte doch lieber laufen sollen, anstatt zu warten. Immer dasselbe. Am Hermannplatz steige ich aus und steuere auf die U-Bahn zu. Nur wenige Marktstände haben geöffnet. Dennoch sind überall Leute, die kreuz und quer laufen. Da sehe ich plötzlich mitten unter den Leuten eine Frau, die ihren Mantel auszieht. Dabei ist es nach wie vor winterlich kühl.
Die Frau beginnt zu tanzen. Gerade dort, wo sie steht. Mitten auf dem bevölkerten Platz. Die Frau dreht sich langsam im Kreis, reißt abwechselnd ihre Arme in die Höhe wie zum Jubel, stützt danach die Hände in die Hüften, dreht sich erneut und schwingt ihre Beine dezent von sich.
Ihren Mantel hat sie zusammengefaltet auf eine alte Zeitung am Boden gelegt. Direkt neben einen Kaffeebecher, der für sie das Kleingeld einsammeln soll. Das erhofft sie sich scheinbar als Entlohnung für ihre Mühe.
Und eine Mühe ist es. Man sieht es ihr an. Ihr schüchternes Lächeln wirkt wie eingefroren. Kein Wunder bei den Temperaturen. Zu regnen hat es jetzt auch begonnen. Um stimmungsvoller tanzen zu können, beginnt sie zu singen. Sie singt ein traurig klingendes Lied.
Einige Leute bleiben stehen und klatschen im Rhythmus des Liedes. Manche von ihnen scheinen das Lied zu kennen und singen mit. Leider kann ich die Sprache des Textes nicht verstehen. Ich frage einen jungen Mann, der neben mir steht und leise in sich hinein singt. Das Lied handele von der Trauer einer Frau, deren Mann im Krieg getötet wurde, sagt er. Ob er die Frau kenne, frage ich. Er schüttelt den Kopf und schaut mich an, als sei ich nicht von dieser Welt. „Die Frau ist nicht gut“, sagt er. Dann wendet er sich ab und geht eilig seiner Wege.
Verdutzt schaue ich ihm nach. Was meint er mit „nicht gut“? Henning Brüns
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