berliner szenen: Das tägliche Brot des Städters
Da stimmt irgendetwas nicht. Dunkle Wolken ziehen auf. Ich spüre die unheilvolle Energie, verstehe aber nicht, was sie mit mir zu hat. Ich bin zu beschäftigt. Als die Unwetterwarnung meinen Hirnkasten erreicht, stehe ich an der Kasse meines Lieblingssupermarktes am Maybachufer und beeile mich, zügig meine Einkäufe im Rucksack zu verstauen.
Trotzdem scheint die Kassiererin sauer zu sein. Ich höre sie vor sich hin grummeln. Dabei kenne ich sie als geduldigen Menschen. Ich stelle mich immer bei ihr in die Schlange. Auch weil sie die Schnellste ist. Verunsichert blicke in ihr genervtes Gesicht. Ihre Augen haben sich zu schmalen Schlitzen verengt. Ein typisches Anzeichen für Empörung, die sich zu entladen droht.
Ich lächle sie schüchtern an. In der Hoffnung dadurch weitere Komplikationen vermeiden zu können. Das tägliche Brot des Großstädters. Ich bin Experte darin. Sobald die geringste Ungereimtheit meinen Weg kreuzt, tauche ich in mir selbst ab. Ich lasse mich in nichts hineinziehen. Ich achte vor allem auf mich selbst.
Doch heute sieht es nicht gut aus. Gleich wird sie mir alles erzählen. Das passiert mir immer, wenn ich nicht vor anderen auf der Hut bin. Wildfremde Leute setzen sich in der U-Bahn zu mir und erzählen mir ihre Lebensgeschichte. Ich kann nichts dagegen tun. Sie steigen immer erst dann aus, wenn ich aussteigen muss. Manche verfolgen mich bis vor meine Haustür.
Hoffentlich ist die Kassiererin dazu angehalten worden, ihren Arbeitsplatz nicht zu verlassen. Was hat sie nur so aufgebracht?
Ein bisschen neugierig bin ich schon. Ich wage sogar, danach zu fragen. „Sie wagen, danach zu fragen? Sie haben wieder an der Frischmilch gerochen. Sehen Sie denn nicht, dass sie ausgelaufen ist. Das ist das zweite Mal diese Woche.“ Henning Brüns
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