berliner szenen: Einmal um den Block
Auf der Obentrautstraße ragt ein weißer Stock über den Radweg. Ich versuche, um diesen herum zu radeln, aber der Stock schiebt sich weiter in meinen Weg. An seinem Ende eine alte Dame, die mich offensichtlich aufhalten will. Als ich gezwungenermaßen stehen bleibe, sagt sie zu mir: „Ich bin blind. Können Sie mit mir einmal um den Block gehen? Dauert nur zehn Minuten.“
Ich habe ein bisschen Zeit, warum also nicht? Ich steige vom Rad, sage ihr, sie soll sich am Sattel meines Fahrrads festhalten, und wir schieben los. Es kommt regelmäßig jemand vom Amt, der mit ihr spazieren geht, aber manchmal müsse sie einfach raus. Ihr Mann ist bei der Arbeit, wenn er zurückkommt, gehen sie einkaufen. Denn er hat eine heiße Pfanne mit Bratkartoffeln auf die Plastiktischdecke auf den Küchentisch gestellt, und die hat da ein Loch hineingeschmolzen. Jetzt müssen sie eine neue kaufen.
Ich frage, ob sie die Gegend noch mit sehenden Augen kennengelernt hat, in der sie jetzt wohnt. Ja, hat sie, und sie ist auch ganz gut im Bilde, dass wir gerade an der Pizzeria an der Ecke vorbeigehen und dass auf der anderen Straßenseite die Apotheke ist, in der sie immer die Medikamente holt. Früher waren ihre Kinder in einer Pfadfindergruppe am Insulaner.
Inzwischen sind wir am Landwehrkanal angekommen. Der Verkehr braust an uns vorbei, und es wird schwierig, sich zu verständigen. Ich frage, ob sie die E-Scooter stören, die überall auf den Bürgersteigen herumstehen und -liegen. Sie hat sich bisher noch immer an ihnen vorbeimanövriert, aber sie kennt jemand, der schon mal übel über so ein Ding gestolpert ist. Kurz bevor wir wieder an ihrer Haustür sind, fragt sie mich noch, ob ich an Gott glaube. Ich verneine, was sie aber nicht weiter zu stören scheint.
Tilman Baumgärtel
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