berliner szenen: Sie spricht dieselbe Sprache
Nach einer Weile wirkte der Alkohol. Auf beiden Seiten. Emma kicherte über meine dünnen Scherze, ich fühlte mich von innen gewärmt, gewärmt und beruhigt, meine Libido dümpelte trotzdem weiter vor sich hin. Es war kaum zu glauben, dass ich mit dieser Frau schon einmal verabredet gewesen war. Eine Frau, die mir an diesem Abend genauso fremd vorkam wie mein altes Ich, das sie einst kennenlernte. Vor kalendarisch gar nicht so langer Zeit. Jedoch, die Vergangenheit schien unendlich weit weg, wie eine mit dem Schiff vor Wochen verlassene Insel, und die Gegenwart kam mir undeutlich und geträumt vor. Ich versuchte mich zu konzentrieren, blinzelte in die Auren der Einzelkerzen auf den Tischen, fixierte dann das unheimliche Tattoo der Bedienung – wie es schien, eine Kriegerin mit phrygischer Mütze –, musterte Emmas rötlich schimmerndes, wie in dünnes Blut getauchtes Haar.
Doch, ja, sie gefiel mir. Eine Lehrerin mit Stil, mit Ausdruck, mit Ausstrahlung. Die sich passenderweise in dem Moment zur Seite drehte, eine Gelegenheit, sie im Profil zu betrachten. Sie hatte eine perfekte Nase, ein formschönes Ohr, ein hübsches Gesicht. Meine Libido erwachte. Vielleicht ging es aber gar nicht um Sex, sondern um einen emotionalen Halt. Emma sagte etwas Unverständliches, ich traute mich nicht, die Haarsträhne anzufassen, die sich an der mir zugewandten Seite löste, wie absichtlich, und die sie sich mit einem leisen Seufzen hinters Ohr klemmte. Stattdessen fixierte ich ihre Kieferbewegungen, hörte die Sprache, die sich in ihrem Kopf bildete und aus ihrem Mund herausklang, strukturierte Laute, die ich leicht zeitversetzt sogar entziffern konnte, weil sie erstaunlicherweise dieselbe Sprache sprach wie ich. Dann wandte sie mir wieder ihr immer schöner werdendes Gesicht zu. René Hamann
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