berliner szenen: Grüner Heinrich, bleib noch
Um einen nun vielleicht endgültig bettlägerig gewordenen Freund im Pflegeheim besuchen zu können, brauchte ich einen aktuellen Schnelltest. Ich bin zu Mandy's in der Reichenberger, eigentlich einer Bar oder Kneipe, die früher über lange Zeit den Schrei: „Ich will ein Kind von dir!!!“ im Fenster hängen hatte. Die Frau am Computer hatte keinen Blick für mich. Irgendwann sagte sie, sie sei jetzt fertig, gleich komme jemand anderes. Das war dann eine schmale, dunkelhaarige Frau mit einer von der Maske nur halb verdeckten grazilen Nase und großen ausdrucksvollen Augen.
Wir waren beide etwas nervös. Ich, weil bei mir die Datenaufnahme mühsam war, weil ich nicht scannen kann, sie, weil das eine oder andere nicht klappte. Ich habe mich dann draußen auf das niedrige Eisenband zwischen Gehweg und Begrünung gesetzt und „Die drei gerechten Kammacher“ von Gottfried Keller gelesen. Der hat die ganzen Seldwyler Geschichten ja nur geschrieben, weil er seinen „grünen Heinrich“ nicht ziehen lassen wollte. Und mit den zwischendurch verfertigten Geschichten hat er das Ende hinausgeschoben. Sie brachte mir das Testergebnis raus, und ich bin noch mal schnell rein zum Tip-Glas. Man nennt das wohl eine schöne menschliche Begegnung.
Der Freund war in grausamer Verfassung und aggressiv mutlos. Alleine hätte ich ihn nie vom Rollstuhl zurück ins Bett gebracht, die freundlich bestimmte Pflegerin musste helfen. Anschließend äußerte sie ihr Befremden darüber, dass man sich im Krankenhaus und in der häuslichen Pflege offenbar nicht übermäßig um ihn gekümmert habe. Er sei ein schwieriger Patient, trotzdem habe der Pflegedienst gewisse Pflichten. Hoffentlich kehren seine Lebensgeister noch einmal wieder, dann machen wir im Frühling einen Ausflug an die nahe Spree. Katrin Schings
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