berliner szenen: Erektile Dysfunktion und Ehrgeiz
Als ich um halb zehn Uhr morgens endlich loslaufe, ist es im Grunde bereits viel zu heiß. Man denkt ja immer gerne, wenigstens im Wald sei es frisch, aber Denken ist Glückssache. Mal fällt die Kugel im Hirnroulette auf Rot, mal auf Schwarz. Bei mir gern auch mal auf die Null.
Denn in diesem unaufgeräumten Kiefernspanholzplattenforst, der unseren Garten in Oberhavel umgibt, steht schon nach zwei heißen Tagen die warme, stickige Luft wie in einer Berliner Dachgeschosswohnung. Ich bin vernünftig und verkürze das übliche Pensum. Ich will ja nicht beim Joggen zusammenbrechen wie einst der französische Präsident Nicolas Sarkozy. Auch er war damals Mitte 50, ein schwieriges Alter, da die Selbsteinschätzung mit den schwindenden Möglichkeiten des eigenen Körpers noch nicht Schritt zu halten vermag. Die mangelnde Einsicht ist nicht nur gefährlich, sondern auch peinlich und würdelos, eine erektile Dysfunktion des Sportsgeistes, maskuliner Ehrgeiz mit Betonung auf der zweiten Worthälfte, toxisch ohne Gift wie eine ausgepumpte Klapperschlange. Da trete ich lieber gleich ein bisschen kürzer.
Trotzdem muss ich auf dem Rückweg in einer baumfreien Passage vom langsamen Lauf in den Spazierschritt wechseln. Das hat den Nachteil, dass mich in diesem Tempo auf einmal Schmeißfliegen umschwirren wie nichts Gutes. Diese hochintelligenten Insekten haben offenbar ein untrügliches Gespür dafür, wer ihre Kandidaten sind und wann deren Zeit gekommen ist – beziehungsweise ihre eigene, die Zeit der Schmeißfliegen.
Die kleinen Geier riechen den Schweiß, das Alter, die Erschöpfung, den Verfall, den Sarkozy, den nur noch 41 Jahre entfernten Tod in mir. Erst als ich mich wieder in Trab setze, bleiben die faulen Fliegen zurück und warten auf das nächste Opfer.
Uli Hannemann
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