berliner szenen: Die Angst im Schrank
S. hat die Tasche wieder ausgeräumt. Die Müsliriegel und Nudeln liegen wieder im Küchenschrank, der Campingkocher in der Kammer. Ein gutes Zeichen, denn wenn die Tasche leer ist und alles wieder an seinem Platz, kann die Sorge nicht mehr gar so groß sein.
Vor über drei Monaten hat Putin die Ukraine angegriffen und erschütterte mit seinen Raketen auch den Grund, auf dem wir stehen. Vor allem die Gewissheit, dass es keinen Krieg mehr gibt in Europa. Eine Bekannte erklärte mit weit aufgerissenen Augen, sie werde nun alle wichtigen Dokumente scannen, zur Sicherheit. Bei Treffen mit Freunden teilte man das Entsetzen angesichts der Zerstörung in der Ukraine. Nach dem zweiten Glas Wein kam dann die Frage: Und, wo würdet ihr hin, wenn Putin die Nato angreift? Berlin wäre in dem Fall kein place to be, so viel stand fest.
Viele machten in den Wochen nach Kriegsbeginn komische Sachen. L. kaufte viele Konserven, A. hob eine vierstellige Summe von der Bank ab. S. fing eben an, die große Tasche zu packen. Sie wollte die Kinder nicht beunruhigen und versteckte sie im Schrank. Irgendwo muss man ja hin mit seiner Angst, vielleicht ist ein Schrank dafür kein schlechter Ort. Nur ihr Mann sah die Tasche. „Was tust du da?“, fragte er. Und erschrak, als er begriff.
Russland versetzte die Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft, (Raketen trafen eine Militärbasis nahe der polnischen Grenze). S. legte Haferflocken, Tomatensauce, Zahnpasta in die Tasche.
In der letzten Zeit nicht mehr. Der Krieg geht weiter, Menschen sterben, und doch hat eine gewisse Gewöhnung eingesetzt. Putin zischelt manchmal etwas gen Westen, auch das nutzt sich ab. Jetzt sind die Dinge wieder dort, wo sie herkamen. Die Tomatensauce hat S. bereits verkocht. Große Taschen sind wieder für Urlaube da. Hoffentlich. Antje Lang-Lendorff
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