berliner szenen: Ukrainisch für Anfänger
In der M10-Tram sitzt mir schräg gegenüber eine Frau mit drei Kindern. Neben ihr ein etwa 14-jähriger Junge, ein Mädchen im Grundschulalter, dazu ein Kleinkind im Buggy. Mutter und Sohn sind mit einem Smartphone beschäftigt, das Kleinkind quengelt. Irgendwann registriere ich, dass es auf Ukrainisch quengelt. An der Tram-Haltestelle Eberswalder Straße steige ich aus. Die Familie ebenso. Kalter Wind umweht das Wartehäuschen.
Erst später merke ich, dass die ukrainische Mutter eine ältere Dame nach dem Weg fragt. Es geht um eine Verbindung, die sie auf dem Handy gefunden hat. Die Kommunikation gestaltet sich schwierig. Ich hätte mit meinen Russischkenntnissen vermutlich dolmetschen können. Wegen der Kälte nehme ich das, was neben mir passiert, wahr wie eine Filmszene. Die ältere Dame erklärt: „Keine Bahn. Schienen kaputt. Dort fährt Ersatzbus Nr. 10.“ Sie versteht nicht, dass ihr Gegenüber kein Deutsch versteht. Oder vielmehr: Sie weiß offensichtlich nicht, wie sie jemandem ohne Deutschkenntnisse trotzdem etwas verständlich machen kann.
Die Ukrainerin holt ihr Smartphone hervor und hält es der Frau vors Gesicht. Jetzt ist die alte Dame völlig konsterniert und weiß nicht mehr, was sie tun soll. Die Ukrainerin macht es ihr vor. Sie spricht auf Ukrainisch einen Satz in ihr Handy. „Wie komme ich zum Hauptbahnhof?“, ertönt es gleich darauf auf Deutsch.
Dann passiert etwas, womit ich absolut nicht gerechnet habe. Die alte Dame schaut der Frau ins Gesicht, lächelt verlegen, zeigt in Richtung Bushaltestelle und sagt sehr zögerlich „Avtobus. Desjat“. Es müssen längst verschüttet geglaubte Russischkenntnisse aus der lange zurückliegenden DDR-Schulzeit sein. „Danke!“, sagt die junge Frau lächelnd auf deutsch und läuft mit ihren Kindern in die angezeigte Richtung. Gaby Coldewey
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