berliner szenen: Dafür sind Nachbarn doch da!
Früh am Morgen klingelt es an der Wohnungstür. Wer kann das sein? Mitten in der Nacht! Womöglich eine meiner Töchter, die vergessen hat, ihren Schlüssel einzustecken.
Darum öffne ich und staune. Es ist ein junger Mann, ein Nachbar. Der Nachbar wohnt allein in der Wohnung über mir. Mehr weiß ich von ihm nicht. Nur dass er selten die Wohnung verlässt und gern in der Nacht Klavier spielt, sodass ich manchmal bei ihm klingeln muss, damit ich genug Schlaf bekomme.
Doch jetzt steht er plötzlich vor meiner Tür, ganz verloren und traurig schaut er aus, und sagt, er wisse nicht, was er machen soll, er traue sich nicht mehr auf die Straße. „Bestimmt hassen mich alle“, sagt er, „die Leute würden mich beschimpfen, wenn sie wüssten, wie ich heiße.“ „Wie heißt du denn?“, frage ich unbedarft zurück, woher soll ich schließlich die Namen meiner Nachbarn kennen. Nervös blickt er sich nach allen Seiten um, tritt dann dicht an mich heran, sodass sich unsere Nasenspitzen fast berühren, und flüstert mir zu: „Ich heiße Putin.“ Beinahe verschwörerisch fügt er hinzu: „Aber nicht weitersagen, das könnte den Teufel in meiner Küche zum Kochen bringen.“
Ich schüttele ungläubig den Kopf. Ob der Wahnsinn in der Ukraine meinen jungen Nachbarn um den Verstand gebracht hat? Ich will schon die Tür schließen, als er mir sanft in den Arm greift und mich scheu lächelnd fragt, ob ich gelegentlich für ihn einkaufen könne, bis die Lage sich wieder beruhigt hat.
Ich schaue ihn an, als ob er zwei Köpfe hätte. Am liebsten würde ich meinem innersten Impuls folgen und ihm meine ganz persönlichen Ansichten über einen gewissen Herrn Putin ins Gesicht sagen, aber tatsächlich antworte ich zu meiner eigenen Überraschung: „Aber klar, dafür sind Nachbarn doch da.“ Henning Brüns
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