berliner szenen: Die junge Frau von gegenüber
Das Verwaltungsgebäude gegenüber wurde ein Jahr lang umgebaut, aus dunklen Büros wurden helle Wohnungen mit neuen Fenstern. Aus nächster Nähe konnte ich die Bauarbeiter und Handwerker beobachten, auch zwei Malerinnen. Jetzt sind fast alle Wohnungen fertig, die Einbauküchen installiert, Lampen und Jalousien hängen. Was ich grundsätzlich begrüße, neuer Wohnraum, ist trotzdem gewöhnungsbedürftig – plötzlich habe ich ein Gegenüber. Sieht mir jemand zu, wenn ich mir beim Fernsehen die Haare raufe?
Andererseits macht es ja Spaß, den neuen Nachbarn zuzugucken und sich vorzustellen, wer sie wohl sind. Den besten Einblick habe ich in eine etwas tiefer liegende Wohnung. Die junge Frau sitzt immer schon vor neun am Computer. Vielleicht funktioniert die Heizung nicht richtig, morgens zieht sie sich die Kapuze über den Kopf. Stundenlang sitzt sie so, nur ab und zu macht sie handschriftliche Notizen. Die Schultern krümmt sie dabei so ungesund – hoffentlich massiert ihr mal jemand den Nacken. Mittags schaltet sie in der Küche das Licht an, so kann ich gut sehen, wie sie etwas zubereitet, aber zwischendurch immer wieder zurück zum Computer geht. Auch zum Essen. Natürlich schäme ich mich, so zu glotzen, trotzdem muss ich immer wieder hingucken. Jetzt bereitet sie sich offenbar auf eine Videokonferenz vor: Kapuze ab, mit den Fingern durch die Haare, Lippenstift, Kopfhörer, Sitzhaltung.
Plötzlich sehe ich auf der Dachterrasse drei rauchende Handwerker, sie werkeln noch im Obergeschoss. Sie zeigen auf mich, reden dabei und müssen sehr lachen. Zu dem beschämenden Gefühl, erwischt worden zu sein, plagt mich die Verunsicherung. Beobachten sie mich schon länger? Als Kiez-Concierge müsste ich noch robuster werden.
Claudia Ingenhoven
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