berliner szenen: Drin im Impfgame 2021
Ich schlafe schlecht aktuell. Das liegt vor allem an Jens Spahn. Sein ewiges Hin und Her macht mich ganz verrückt. Ich will jetzt diese Booster-Impfung, und zwar möglichst sofort.
Kein Problem: Im Einkaufszentrum nebenan gibt es Impfungen ohne Termin, ab elf Uhr vormittags. Als ich um halb elf komme, steht die Schlange durchs ganze Obergeschoss. Die Familie vor mir gibt nach einer Viertelstunde auf. Ein Pärchen hält anderthalb Stunden durch. Dann sagt sie: „Die sollen nur 120 Impfdosen pro Tag haben, da kommen wir eh nicht dran.“
Um halb zwei ein erster Lichtblick. Ein junger Mann drückt mir ein Klemmbrett in die Hand: Impfaufklärung, Einwilligungsdingens, kennt man ja. Kurz darauf ein weiterer Meilenstein: An einem Stehtisch werden Impfpass und Formulare abgeglichen. Für die jungen Leute vor mir ist hier Schluss. Ihre letzte Impfung liegt erst vier Monate zurück. Ich hingegen bekomme einen Zettel mit der Nummer 103. Ich bin noch drin in diesem Impf-Game.
Das „Impfzentrum“, vor dem ich um halb drei ankomme, ist ein ehemaliges Teegeschäft. Drei Impfplätze, provisorische Trennwände, billige Plastikstühle. An der Tür ein handgeschriebener Zettel: „Heute Biontech“. Betrieben wird das Ganze vom Arbeiter-Samariter-Bund.
Da sitzen also Mediziner den ganzen Tag auf schlechten Stühlen in einem lauten Einkaufszentrum, weil der Staat ohne Not die großen Impfzentren geschlossen hat.
Eine Frau aus der Schlange rechnet laut: „Die impfen hier so 150 Leute am Tag. Das sind knapp 1.000 pro Woche. Und in Berlin leben 4 Millionen Menschen.“
Ich spüre ohnmächtige Wut in mir aufsteigen. Dann bin ich dran. Es ist mittlerweile drei Uhr nachmittags. Aus Dankbarkeit werfe ich anschließend 10 Euro in die Spendenbox. Deutschland 2021 – denkste dir nicht aus, ey.
Gaby Coldewey
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