berliner szenen: Nazi-Runen beim Muffelwild
Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken, sagt W. verschmitzt und deutet auf den Zaun, der einen Teil der Schönower Heide einfriedet, genauer das Dam- und Muffelwild, das für den nötigen Kahlfraß sorgt, damit die Heide schön blüht, so wie jetzt im Spätsommer. Der Zaun hat seinen Argwohn erregt.
Seit W. im Zweitstudium das Gymnasiallehramt Geschichte anstrebt, ist sein pädagogischer Eifer leicht zu entfachen. Neulich hat er alle dazu angehalten, den „Zauberberg“ zu lesen, im Augenblick geht nichts über Kafka. Er schwärmt vom „Schloss“, als wäre er Max Brod und der Roman der heiße Scheiß des Bücherherbstes.
Wildbienen summen, ein Baumpieper ruft, eine Mufflonherde zieht vorbei und verschwindet hinter einer Sanddüne.
Und was ist jetzt mit dem Zaun? Irgendwas stimmt nicht mit der Anordnung der Zaunpfähle. Den naiven Betrachter erinnern die Pfähle vielleicht an ein Peace-Zeichen. Doch weit gefehlt. W.s geschulter Blick erkennt eine Y-Rune oder auch Besen-Rune. In der alten Runendichtung hat sie die Bedeutung „gespannter Bogen“, unter Nazis gilt sie als Todesrune, gern verwendet auf Gräbern von SS-Schergen und als Erkennungszeichen.
Ungläubig winken wir ab und atmen den süßen Heideduft, aber als sich auf dem Aussichtsturm weitere Besen-Runen finden, eingeritzt ins Holz, wird uns doch mulmig, und wir verlassen den pittoresken Ort. Die Heide war übrigens militärisches Übungsgebiet der Reichswehr und später der Sowjets, erklärt W. Beim Pinkeln sollten wir also lieber nicht zu weit ins Dickicht laufen, rät er. Sascha Josuweit
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