berliner szenen: Gedenken an Klara
Hatte sie vom Leben zu viel verlangt? Wir stehen in der Grüntaler Straße 59 und schauen rauf zum vierten Stock. Dort setzte sich die 72-jährige Klara Heydebreck am 10. März 1969 an ihren Küchentisch und schrieb ihrem Neffen einen Abschiedsbrief. Sie entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten und bat ihn, die Gasrechnung für die Wohnung zu bezahlen, in der sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte. Dann schluckte sie zwei Packungen Betadorm und spülte mit Weinbrand nach. Eberhard Fechner drehte anhand des Nachlasses und von Gesprächen den Film „Nachrede auf Klara Heydebreck“. Fechner fragt nach den Lebensbedingungen einer unabhängigen Frau im 20. Jahrhundert, ihrem Umgang, ihren Interessen. Er stellt fest, dass niemand Klara Heydebreck wirklich kannte und sogar ihre Geschwister sie für sonderlich hielten. Die Nachbarn beschreiben sie als einzelgängerisch. Erfüllung fand sie beim Chorsingen, in Kunstausstellungen und der Fortbildung in der Volkshochschule. Fechner rechnet vor, wie Heydebreck als Buchhalterin ihren Lebensunterhalt verdiente, wie sparsam sie haushaltete und wie die Inflation die Miete in einem Jahr von 40 Mark auf 2 Billionen katapultierte. Ab 1956 erhielt Klara Heydebreck Ruhegeld. Das ermöglichte ihr, kleinere Beträge zu spenden, ans Rote Kreuz, an die Berliner Flüchtlingshilfe. Von 1912 bis 1969 hatte sie Bruttoeinnahmen aus Erwerbsarbeit von 72.000 Mark, dazu 8.000 Mark Arbeitslosenhilfe und 49.000 Mark Ruhegeld: 129.000 Mark, die materielle Basis eines Lebens, sagt Fechner. Ich wüsste gern, wer jetzt in der Wohnung wohnt. Als wir das Klingelbrett betrachten, kommt eine junge Frau und fragt, ob sie uns reinlassen kann. Wir erzählen ihr von Klara Heydebreck. Den Namen habe sie schon gehört, sagt sie.
Sascha Josuweit
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