berliner szenen: Platon, Plinsen und Würzfleisch
Die ganze Familie trug zu große Jacken. Der Frau fielen die Augen aus den Höhlen. Der Junge hatte einen sehr kleinen Kopf. Am Nebentisch wurde unentwegt geraucht. Dazu grellbunte Cocktails. Als das Essen kam, waren alle schon satt. Wir bestellten Schlachtplatte „Platon“, aber für den kleinen Hunger. Die Portionen waren trotzdem so, als käme bald eine neue Krise.
Freund S. war binnen zweier Jahre von Neukölln nach Schöneberg, von da nach Alt-Hohenschönhausen und weiter nach Weißensee gezogen. Als wir die Möbel am Ende des Coronasommers in den 3. Stock schleppten, war es, als trügen wir alte Bekannte. Danach lud S. zum Griechen am Mirbachplatz. Es war eine Zeitreise in die BRD der 80er: Gyros, Pommes, Zaziki, grüner Salat mit dick Knofisauce drauf. Nur dass der Ouzo vor dem Essen kam, irritierte.
Drinnen am Plafond blitzten die Kristallleuchter, am Nebentisch steckten sie sich die Verdauungszigaretten an, und unser Gespräch mäanderte von Ferienerlebnissen an der Ostsee bis zur DDR-Küche mit Plinsen und Würzfleisch aka Ragout „Fäng“. Für die „Versorgungslösung Ketwurst“ erhielten die Mitarbeiter des Rationalisierungs- und Forschungszentrums Gaststätten 1979 eine Auszeichnung. Chinesische Einflüsse gab es keine, dafür Spirelli-Nudeln und bulgarischen Schopska-Salat. Hatte ich nicht gewusst. Zu den ersten Lokalen in der DDR, in denen internationale Küche geboten wurde, gehörten Doris Burneleits „Fioretto“ in Berlin-Spindlersfeld und der „Waffenschmied“ im südthüringischen Suhl. In dem HO-Restaurant richtete der Gastro-Pionier Rolf Anschütz bereits 1966 eine Japanabteilung ein. Er servierte Sukiyaki und betrieb ein traditionelles japanisches Badehaus. Ob es geschmeckt hat, fragt der Kellner mit krassem sächsischen Akzent. Logo.
Sascha Josuweit
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