berliner szenen: Die Schönheit der anderen
Bindegewebe lügen nicht, sagte die Physiotherapeutin und begann, an mir zu arbeiten. Sie hob mir den Kopf, reckte mir den Hals nach rechts und links, zog Faszien lang, drückte auf Schmerzpunkte, knetete mich durch. Dabei schaltete sie einen Erzählmodus ein, der wie eine Meditationskassette funktionierte. Sie erzählte von ihren Kindern, von Radtouren und Elternabenden, von der 1001. schlaflosen Nacht. Ich schloss die Augen und lauschte.
Bald begannen meine Gedanken ein Eigenleben zu entwickeln, das von ihren Worten fort und wieder zurück führte: Ich dachte an die Krankheiten dieser Welt. Ich dachte über Körperlichkeiten nach, über den Satz, dass es in Berufen, in denen mit den Körpern von Fremden gearbeitet werden musste, von Pflege über Physio bis zur Prostitution, darauf ankommt, Schönheit in den Körpern der anderen zu entdecken. Bald sah ich ein Fischgrätenparkett, über den bestrumpfte Füße tänzelten. Ich öffnete die Augen und lächelte sie an. Ich wusste, dass sie einen stampfenden Gang hatte, eine Art, stampfend aufzutreten, etwas, das überhaupt nicht tänzerisch war, obwohl das, wie sie mir während einer früheren Behandlung erzählt hatte, ihr Mädchentraum gewesen war: zu tanzen. Ich fragte mich, ob das der Grund gewesen ist, warum sie keine Tänzerin geworden war, sondern Physiotherapeutin, eine Zuarbeiterin, die mit menschlichem Elend zu tun hatte, mit altem, starrsinnigen Fleisch, mit Skoliosen und Arthrose, mit morschen Knochen, krachenden Gelenken, mit Krankheit und Starrsinn.
Ihr fehlte das Tänzerische, und eines Tages hatte das jemand erkannt und ihr mitgeteilt, tut mir leid, aber ich sehe nicht, dass du hier eine Zukunft als Tänzerin hast, von deiner Herkunft einmal ganz abgesehen, einmal Arbeiterklasse, immer Arbeiterklasse, und Bindegewebe lügen nicht. René Hamann
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