berliner szenen: Vater guckt Smartphone
Wir sitzen im Wartezimmer des Kieferorthopäden. Die meisten Patienten sind Kinder und Teenager mit „Grills“ auf den Zähnen. Da alle am Handy hängen, herrscht Totenstille. Wir sitzen auf Eisenbänken mit dem Rücken zueinander; irgendwie fühlt man sich wie im Wartesaal eines Busbahnhofs. Hinter mir sitzt ein Mann, der seinen Sohn begleitet. Der Junge ist im Grundschulalter, der Mann um die vierzig, Lederjacke, Schnauzbart, unrasiert. Beide haben ein Smartphone in der Hand und Kopfhörer in den Ohren.
Ich stehe auf, um mir eine Zeitschrift zu holen – noch gibt es so etwas hier. Dabei sehe ich auf dem Bildschirm des Mannes ein junges Mädchen im Hochformat, das zu einer Musik tanzt, die nur er hört. Er schaut offenbar TikTok. Ab und zu drehe ich mich vorsichtig um, um zu sehen, was er sonst noch so guckt. Jedes Mal tanzt da ein anderes Mädchen, die meisten haben Shorts und Oberteile mit Spaghettiträgern an. Ob man den Algorithmus von TikTok so beeinflussen kann, dass er nur Videos von tanzenden Mädchen zeigt, die nicht viel anhaben? Material von Homosexuellen, Uiguren und anderen Leuten, die die chinesische Regierung nicht gut findet, kann die App ja offenbar auch verschwinden lassen.
Ich muss vor einiger Zeit, ohne dass ich es gemerkt habe, in einer Welt aufgewacht sein, in der es normal ist, dass ein erwachsener Mann mit Kind seine freie Zeit im Wartezimmer damit verbringt, sich 15-Sekunden-Clips von herumhüpfenden Mädchen in leichter Bekleidung anzusehen. Ununterbrochen, einen nach dem anderen.
Es ist unhöflich und indiskret, bei anderen auf den Monitor des Smartphones zu gucken, sage ich mir schließlich. Möglicherweise will man auch gar nicht wissen, was die da gucken.
Tilman Baumgärtel
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