berliner szenen: Einer trinkt die Baby-Nahrung
Gestern früh. Ein großes Berliner Krankenhaus. Rettungsstelle. Montag, 7 Uhr. Seit zwei Wochen habe ich als Ärztin durchgehend Frühdienst. Mindestens ebenso lange habe ich nicht mehr anständig gegessen, denn Frühschicht in der Rettungsstelle ist wie Ramadan. Kein Frühstück, kein Mittagessen und Abendessen erst nach Einbruch der Dämmerung. Zugegeben, ein Ramadan light, denn gebetet wird nicht, und trinken ist zwar erlaubt, aber fällt so häufig unter den Tisch, dass ich es nur der Form halber erwähne.
Mir genügt die Variante vollauf. Ich habe bereits fünf Kilo abgenommen, kein Ende in Sicht. So früh am Morgen kann ich einfach nichts essen. Und sobald ich könnte, fehlt mir die Zeit. Nach der Feuerwehr, die ab 10 Uhr sämtliche Bewohner vom Pflegeheim nebenan in die Rettungsstelle bringt, kann ich inzwischen die Uhr stellen. Ab Mittag kommen die ersten Studenten mit Bauchschmerzen, ab 16 Uhr die Betrunkenen, und schon vergeht wieder ein Tag, an dem ich theoretisch zu jedem Zeitpunkt spontan operiert werden könnte, nüchtern wie ich bin. Ich kenne nur einen Kollegen, der seine Wohnung auch vor dem Frühdienst nie ohne gebratenen Speck verlässt. Aber der hat eine Frau und einen Magen, die beide hart im Nehmen sind.
Den anderen geht es ähnlich wie mir. Einer trinkt die Babynahrung seines Kindes, ein anderer nimmt Kaloriendrinks für Krebspatienten. Nur ich kann mich an die breiige Kost nicht gewöhnen. Erst seit eine meiner Kolleginnen ein Pferd besitzt, hat sich mein Speiseplan erweitert, denn nun bringen alle altes Brot mit in die Rettungsstelle. Das wird dann in einer großen Plastiktüte im Schwesternzimmer gesammelt, und wer will, darf sich bedienen. Außer mir will bisher niemand. Ich aber habe schon ein Kilo zugenommen. Eva Mirasol
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