berliner szenen: Gegen sich und das System
Der Tag der Deutschen Einheit ist grau. Wetter und Anlass verleiten zu Besinnung und Buße. Da kommt die Dokumentation „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ von Thomas Heise gerade recht. Deutschland darf, soll, muss wehtun. Drei Stunden und achtunddreißig Minuten ist der Film lang. Wir dachten, das guckt bestimmt keiner, doch offenbar hat ein Reisebus eine Ladung Rentner vor das Kino FSK gespuckt. So wird der Film nonstop vom Geraschel wetterfester Altenkleidung begleitet.
Es ist Heises Familiengeschichte über vier Generationen hinweg. Beginnend vor dem Ersten Weltkrieg, über Weimar, das Dritte Reich, Nachkriegszeit, DDR und Wiedervereinigung. Ahnen in Wien und Berlin, ein Teil der Familie jüdisch.
Als Film geht das lange gut, bevor mir die Sache dann zu ostig wird. Wohlbekannten Pappaufstellern gleich werden wie stets zu derlei Gelegenheiten mit Bertolt Brecht, Heiner Müller und Christa Wolf die drei Intellektuellen der Wichtelmännchenrepublik aus dem Fundus gezerrt und mit diesem auf unreligiöse Weise erzprotestantischen, tiefen Osternst präsentiert, der immer auch eine breite Anklage ist: gegen das System, das schon gut gewesen wäre, wäre es denn besser gewesen; gegen sich selbst mit dieser von edlen Zweifeln und melancholischer Nachsichtigkeit durchdrungenen Bewertung der jeweils eigenen Rolle; gegen den lauten und infamen Westen. Wie es dort war, interessiert kein Schwein. Da war eh alles oberflächlich. Nichts hatte diese großartige Tiefe und Schwere wie im Osten. Auch nicht dieses Kernige, Ehrliche, Authentische. So menschlich, Mann.
So unbequem wie die Wahrheit ist auch der Kinosessel. Mein Hintern schläft ein, er fühlt sich unangenehm betäubt und pelzig an. Hoffentlich fängt er nicht noch an, zu schnarchen.
Uli Hannemann
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