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berliner szenenSie blickt seelenruhig geradeaus

Am Strausberger Platz stehe ich mit dem Auto an der roten Ampel Richtung Kreuzberg. Auf der Spur links neben mir verdeckt mir ein Betonmischfahrzeug die Sicht. Es wird grün und ich müsste zügig anfahren, um vor dem Lkw in die sich verengende Fahrbahn einzufädeln. In diesem Moment löst sich eine junge Brillenträgerin auf dem Elektrostehroller aus dem zweifelhaften Schutz des Lasters und taucht direkt vor mir auf. Auf der falschen Seite fahrend quert sie den Radweg bei Rot. Ich bleib dann mal stehen.

Ich hupe nicht, denn neben Radfahrern oder Tretrollern sollte man das nicht tun – die fallen sonst vor Schreck um und sowieso ist das im Grunde Körperverletzung. Ich zeige ihr halt einen meiner längeren Finger, eine hilflose Geste, die komplett versandet, denn sie blickt seelenruhig geradeaus, ist sich offensichtlich keiner Schuld und, was viel schlimmer ist, keiner Gefahr oder überhaupt nur irgendeiner wie auch immer gearteten Problemlage bewusst.

Ihre Schuld ist egal. Es wäre halt schön, wenn sie kapierte, dass sie tot sein könnte. Denn ohne diese Einsicht wird sie an der nächsten Ecke tot sein oder an der übernächsten. Beziehungsweise in einer Stunde oder morgen oder übermorgen. Immerhin wird sie insgesamt bei nur einer der genannten Gelegenheiten sterben, und somit erübrigen sich dann die jeweils anderen – vielleicht ist ihr das Trost und Sicherheit genug.

Natürlich reflektiere ich, ob sich die gleiche Situation nicht auch mit einem Radfahrer ergeben könnte. Denn die Selbstentleibungskünstler auf dem E-Roller fallen einem ja vor allem deswegen stärker ins Auge, weil ihr Anblick neu ist. Und man fiele bloß wieder in die allgemeine Bashing-Arie mit ein. Ich bin mir nicht sicher. Aber gefühlt hat der Wahnsinn hier eine völlig originäre Qualität. Uli Hannemann

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