berliner szenen: Probier es doch mit Reiki
Seit sie die Brille verlor, probiert sie es mit Reiki. „Weißt du, was Reiki ist?“, fragt sie. „Ja. Irgendwas mit Druck“, antworte ich, wobei es mir brutal vorkommt, sich die Augen drücken zu lassen. „Nein, ohne Druck, mit Energie“, sagt sie. „Ich kann dir zeigen, wie das geht.“ Ich schüttele den Kopf.
Wir schieben unsere Räder die Choriner Straße entlang, an Baustellen vorbei. Sie trägt eine Tüte voller Orangen und ich stelle mir vor, dass wir auf dem Land und nicht in Berlin sind, die Tüte ein Weidenkorb ist und die Orangen nicht von Lidl um die Ecke, sondern vom Baum kommen (und dementsprechend riechen). Sie hatte auch Himbeeren mitgebracht, die wir schnell aufaßen, nachdem wir googelten, wie man sie auf Spanisch – unsere Muttersprache – nennt. „Frambuesas, natürlich!“
Dann sitzen wir am Platz neben der Buchhandlung, und während ich eine Feierabend-Zigarette rauche, liest sie mir eine Erzählung vor, die sie eben fertig schrieb. Sie erwartet Kritik, doch ich verliebe mich in die Geschichte, genauso wie sie ist, und weiß nicht, was ich sagen soll. Stattdessen erzähle ich, dass meine Freund*innen und ich uns früher in Cafés trafen, um uns Texte gegenseitig vorzulesen. Wir zeigten uns Autor*innen, die wir entdeckten, oder empfahlen uns Bücher. „Das war vor Jahrhunderten in Buenos Aires. Diese Cafés gibt es nicht mehr“, sage ich und kann es nicht vermeiden, mich zu fühlen, als würde ich etwas aus einer fernen Zeit beschreiben, das komplett ausgestorben ist. Das Gefühl, alt zu sein, wird noch stärker, als ich erfahre, dass sie noch Pausenbrot im Schulhof aß und ihre ersten Tagebücher führte, während wir damals davon träumten, Teil irgendeiner literarischen Bewegung zu werden.
„Vielleicht sollte ich das mit dem Reiki doch probieren“, sage ich, nur um das Thema zu wechseln.
Luciana Ferrando
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