berliner szenen: Die Pillen, der Trost, die Struktur
Der klassische Tagesablauf, das tägliche Mantra eines gemäßigten Schmerzpatienten sah in etwa so aus: Ich wachte wie gelähmt auf und nahm nach einem frugalen Frühstück eine Schmerztablette. Ich nahm ein Muskelrelaxans. Ich trank Kaffee, um wach zu werden. Ich trank Wasser, um konzentriert zu sein (und um den Kaffee auszugleichen). Ich lutschte eine Magnesiumtablette, weil mir die Muskeln zuckten.
Ich sagte mir autosuggestive Sätze vor, ich übte mich in Meditation, ich dachte an Elvis. An die Pillen, die Kicks, die Bauchschmerzen. Ich dachte an sinkende Staaten, weltliche Askese, an Disziplin als Akt der Selbstbestrafung. Selbstbestrafung wofür? Die einen brauchen Frauen, die anderen Alkohol, sagte mal ein Freund und meinte uns Männer, nicht die Frauen. Es ist alles bloß Text, es ist alles nur ein Test, dachte ich auf dem Weg zum Schreibtisch des Neurologen. Blumentöpfe mit roten Blumen auf den Fensterbänken.
Es wäre natürlich schön gewesen, rascher schmerzfrei zu sein. Aber es war immerhin so, dass die Regelmäßigkeit der Physiotherapie half. Ich dachte daran, dass ich nicht so sehr meine Geliebten vermisste, vielleicht mit Ausnahme der schwangeren Linda. Die jetzt als rote Kugel unterwegs war und ihren Umzug nach Pankow vorbereitete. Ich vermisste sie kaum, in der Hauptsache vermisste ich mich selbst. Selbstbewusstsein, Sicherheit, Selbstverständnis.
Ich merkte, dass ich mir die Termine bei Ärzten und Therapeuten auch deswegen heranschaffte, um mir Trost, Erleichterung, Struktur und eine Art Ankommen zu verschaffen. Ich merkte, dass mir der Schmerz sagen wollte, dass ich Hilfe brauchte, und dass er nicht aufhören würde, solange ich diese Hilfe nicht bekam. Ich hing in einer Dauerschleife fest. Ich setzte mich. Ich musste mich um mich selbst kümmern. René Hamann
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