berliner szenen: Was haben wir falsch gemacht?
Am Anhalter Bahnhof steige ich in die S1 Richtung Frohnau. Mir gegenüber auf den Klappsitzen eine kleine Familie, eine Mutter mit zwei Kindern. Das eine sitzt im Buggy und gibt keinen Mucks von sich. Das andere, ein etwa sechsjähriges Mädchen, sitzt, ebenfalls still, neben der Mutter. Es ist so ruhig, dass ich aufmerksam werde. Mein Sohn hat in dem Alter nie länger als zwei Minuten so neben mir in der Bahn gesessen. Und ich selber war auch kein besonders ruhiges Kind.
Die Mutter tippt auf ihrem Handy, sehr schnell, sehr konzentriert. Sie hat violette Strähnen im Haar, passend zur Winterjacke. Das kleine Mädchen trägt einen blaugrauen Anorak. Sie sieht sehr brav aus. Am Potsdamer Platz tippt die Mutter immer noch, aber an der nächsten Station sieht sie kurz hoch. Das nutzt das Mädchen für eine Frage: „Mama, wie heißt die nächste Straße? Sind wir bald zu Hause?“ Sie fragt das ruhig und höflich, ungewöhnlich ruhig und höflich für eine Sechsjährige. „So nicht, Frollein!“, fährt die Mutter sie an. Ich zucke zusammen. Was haben wir falsch gemacht? Ich fühle mich sofort solidarisch mit dem Kind. „Es heißt nicht ‚nächste Straße‘, sondern ‚nächste Station‘, merk dir das, Frollein!“ Ich spüre eine leichte Wut in mir aufsteigen.
Die Mutter wendet sich wieder ihrem Handy zu. Das Mädchen schaut nachdenklich auf ihre Schuhspitzen. Dann fragt sie, noch eine Spur höflicher: „Und wie heißt die nächste Station?“ Ich weiß die Antwort und bin jetzt sehr gespannt. „Friedrichstraße“, sagt die Mutter kurz angebunden. Als Kind hätte ich jetzt frech gesagt: „Siehste! Es heißt doch Straße!“ Das Mädchen schweigt. Als die Bahn hält, steigen sie aus. Ich sitze da und spüre, wie es in mir arbeitet. Und mit leichtem Triumph denke ich plötzlich: „Und danach kommt Oranienburger Straße. Ätsch!“
Gaby Coldewey
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