piwik no script img

berliner szenenFlipperkönig von Kreuzberg

Diesmal steht die Rotweinflasche nicht auf dem Küchentisch am Fenster, sondern weiter hinten in der Einbauküche, gleich bei dem Wassererhitzer. M. scheint einen Tick derangierter als letzte Woche und wirkt ein bisschen beatnikmäßig in seinem alten Jackett. Weil er getrunken hat, wirkt er etwas jünger und erinnert wieder mehr an den M., den ich in den 90er Jahren als ständigen Kiffer kennen gelernt hatte. „Rote Hilfe, Haschisch rauchen, jeden Tag ne neue Frau … das ist M., so wie er lebt und nach höh’ren Dingen strebt.“ Ganz krieg ich das Gedicht nicht mehr zusammen.

Wir hatten oft über die Verhältnisse diskutiert. Bis Captain dazukam, war er der Flipperkönig von Kreuzberg gewesen. Sein Lebensideal war gewesen, nicht zu arbeiten. Einmal war sogar die Tochter des Alternativverlegers vorbeigekommen, um seinen Lebensentwurf zu besichtigen. Die meiste Zeit hatte er zu Hause gesessen, Zeitung gelesen und geraucht. Zuweilen hatte es Maßnahmen gegeben, die ihm teils sogar ein bisschen gefielen, dann hatten wir Rouladen gemacht und er war aufgeregt, weil die KollegInnen kamen. Als prinzipieller Mensch hatte er sich vielleicht nicht eingestehen können, dass ihm Arbeit eigentlich doch gefiel, hatte ich manchmal gedacht.

Zwanzig Jahre später war aus dem mittleren der alte, gehandicapte M. geworden, dem alle sagten, er könne sich glücklich schätzen, immer noch in Kreuzberg zu wohnen. Vor allem solle er nicht trinken. Er fragt, ob er für mich das nächste Mal ein Bier kaufen soll, ich sage, ich trink nichts mit dir, das gibt immer nur Krankenhaus, und erinnere ihn an den Begutachter, der ihn gewarnt hatte. Dann schlägt er mich zweimal im Schach durch endloses Warten vor jedem Zug. Ich bin kurz verärgert und dann ganz gut gelaunt. Detlef Kuhlbrodt

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen